Laufendes Biozid-Einstufungsverfahren gefährdet Infektionsschutz in Europa

Positionspapier zur beabsichtigten Einstufung von Ethanol als CMR (kanzerogen, mutagen, reproduktionstoxisch) durch die Europäische Union

Derzeit läuft auf Ebene der Europäischen Union (EU) ein bedenkliches Verfahren zur Einstufung des Biozidwirkstoffs Ethanol nach der Biozidprodukte-Verordnung (EU) Nr. 528/2012 (BPR-Verfahren). Im Rahmen dieses Verfahrens steht aktuell eine undifferenzierte Neueinstufung von Ethanol als CMR-Stoff (kanzerogen, mutagen, reproduktionstoxisch) der Kategorie 2 oder der höchsten Gefahrenkategorie 1 im Raum. Anschließend soll die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Ethanol im Rahmen des CLH-Verfahrens (Verordnung (EG) Nr. 1272/2008) angepasst werden.

Ethanol ist der gut verträgliche Basiswirkstoff der Mehrzahl der Hände- und Oberflächendesinfektionsmittel in Europa. Beschränkungen oder ein Verbot würden die Möglichkeiten des wirksamen Infektionsschutzes massiv einschränken und ernsthaft gefährden. Dies wäre insbesondere problematisch bei Auftreten von Enteroviren, wie beispielsweise Polioviren, oder bei Pandemien und Ausbrüchen, bei denen in kurzer Zeit große Mengen an sicher wirksamen Desinfektionsmitteln benötigt werden.

Eine CMR-Einstufung von Ethanol würde den Infektionsschutz stark einschränken. Die Einschränkungen sind bei einer Einstufung in die Kategorien 1A und 1B am größten. Jedoch auch eine Einstufung in Kategorie 2 würde dazu führen, dass Ethanol im Praxisalltag nicht mehr eingesetzt werden kann. Die Gründe hierfür sind:

  • Der Stoff müsste im Falle einer Einstufung in Kategorie 1A oder 1B ersetzt werden (Substitutionsprüfung im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung am Arbeitsplatz). Dies ist jedoch nicht ohne Einschränkungen im Infektionsschutz möglich, denn Ethanol ist in seiner hohen Wirksamkeit alternativlos. Die Substitutionsprüfung würde zudem einen hohen bürokratischen Aufwand verursachen.
  • Nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 a) Mutterschutzgesetz dürfen Schwangere und Stillende mit als reproduktionstoxisch eingestuften CMR-Stoffen der Kategorie 1A/B oder 2 oder nach der Zusatzkategorie für Wirkungen auf oder über die Laktation nicht umgehen. Der Umgang mit ethanolhaltigen Desinfektionsmitteln wäre für Schwangere und Stillende nicht mehr möglich. Dies könnte zu Beschäftigungsverboten in einem von Fachkräftemangel geprägten Sektor führen.
  • Personen unter 18 Jahren dürfen nach Jugendschutzgesetz nicht mit Arbeiten beschäftigt werden, bei denen sie schädlichen Einwirkungen von Gefahrstoffen ausgesetzt sind. Ausnahmen sind möglich, wenn die Tätigkeiten mit Gefahrstoffen für die Erreichung des Ausbildungsziels erforderlich sind, Schutz durch die Aufsicht einer fachkundigen Person gewährleistet ist, oder der Arbeitsplatzgrenzwert bei gefährlichen Stoffen unterschritten wird. Die Sicherstellung dieser Kriterien würde hohen Aufwand verursachen und die Beschäftigung von Jugendlichen, die im Rahmen von Berufsausbildungen eine wichtige Gruppe in bspw. der Pflege sind, erschweren.
  • Die Abgabe von ethanolhaltigen Desinfektionsmitteln an private Anwender:innen wäre im Falle einer Einstufung als CMR in Kategorie 1A oder 1B untersagt (§ 3 Abs. 1 ChemVerbotsV). Auch in Gesundheitseinrichtungen könnten ethanolhaltige Desinfektionsmittel Besucher:innen nicht mehr zur Verfügung gestellt werden, z.B. in Spendern.
  • Das Gebot zur Substitution und ein mögliches Ende des freien Verkaufs von ethanolhaltigen Des-infektionsmitteln dürfte dazu führen, dass viele Hersteller die Produktion ethanolhaltiger Desinfektionsmittel einstellen. Eine stärkere Marktkonzentration, und damit eine verringerte Verfügbarkeit und größere Abhängigkeit von einzelnen Herstellern wären die Folge.
  • Verbraucher:innen wären verunsichert und der Infektionsschutz in Europa wäre massiv bedroht. 

Die Einstufung basiert auf unzureichender Differenzierung.
Problematisch ist, dass die Einstufung von Ethanol als reproduktionstoxisch auf Studien zur oralen Aufnahme von Ethanol basiert, also dem Konsum alkoholischer Getränke. Der im Gesundheitswesen relevante Aufnahmeweg von Ethanol über die Haut oder Atemwege stellt wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge kein Risiko für den Menschen dar. Die aufgenommene Menge von Ethanol über die Haut ist bis zu zehnmal geringer als beim Konsum von Lebensmitteln mit verstecktem Ethanolgehalt wie Apfelsaft, Kefir oder alkoholfreiem Bier (Kramer et al., 2024).

Dass bei der Einstufung von Ethanol primär Daten zur oralen Aufnahme von Ethanol berücksichtigt wurden, ist undifferenziert und spiegelt nicht die bestimmungsgemäße Verwendung der Biozidprodukte wider. Sie ist demnach wissenschaftlich nicht begründet. Es gibt keine Evidenz, die zeigt, dass Ethanol im Rahmen der professionellen Verwendung von Desinfektionsmitteln eine krebserregende oder reproduktionstoxische Wirkung hat.

Die generalistische Einstufung von Ethanol für alle Verwendungsformen gilt es unbedingt zu verhindern. Die Position Deutschlands und Österreichs hat innerhalb der EU eine Signalwirkung. Es ist von großer Bedeutung, dass Deutschland und Österreich hier schnell handeln und sich aktiv innerhalb der EU für den Erhalt von Ethanol im Gesundheitswesen einsetzen.

Wir fordern, dass die undifferenzierte Einstufung von Ethanol als CMR-Stoff im Rahmen des BPR-Verfahrens gestoppt wird. Denn: 

Ethanol ist alternativlos wirksam.
Ethanol zeichnet sich durch eine höhere Wirksamkeit gegenüber relevanten Viren aus als die Alternativen 1-Propanol und 2-Propanol. Es gibt keine Alternative zu Ethanol, die gegen unbehüllte Viren, wie bspw. Polioviren, wirksam ist. Daher würde gerade ein Verzicht auf die Verwendung ethanolhaltiger Desinfektionsmittel ein Gesundheitsrisiko für in der Gesundheitsversorgung Tätige darstellen! 

Ethanol ist sicher.
Die durch Händedesinfektion über die Haut aufgenommenen Mengen Ethanol liegen unterhalb toxikologisch relevanter Konzentrationen. Eine sachgerechte Anwendung ist sicher.

Ethanol ist unverzichtbar.
Ethanol wird seit 1977 auf der Kernliste der unverzichtbaren Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geführt (WHO, 2023). Eine adäquate Reaktion auf Pandemien wäre ohne die uneingeschränkte Verfügbarkeit von Ethanol nicht möglich. 

Ethanol ist verfügbar.
Ethanol ist breit verfügbar und kostengünstig. Eine Substitution durch weniger wirksame und eingeschränkt verfügbare Alternativen wie Propanol würde zu Kostensteigerungen im bereits unterfinanzierten Gesundheitswesen führen.

Wir rufen Sie dazu auf, sich auf nationaler Ebene sowie insbesondere in Richtung der Europäischen Union dafür einzusetzen, die unsachgemäße Einstufung von Ethanol zu verhindern.

Gerne stehen wir Ihnen für Nachfragen und zusätzliche Informationen zur Verfügung. Wir würden uns freuen, das Thema in einem persönlichen Austausch mit Ihnen zu vertiefen. Bitte teilen Sie uns einen Terminvorschlag für ein Gespräch mit.

Dr. Ruth Hecker
Vorsitzende, Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. (APS)

Dr. Martin Danner
Bundesgeschäftsführer, Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe (BAG)

PD Dr. med. Daniela Huzly
Bundesvorsitzende, Berufsverband der Ärzte für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie e.V. (BÄMI)

Dr. Christof Alefelder
Vorsitzender, Berufsverband Deutscher Hygieniker e.V. (BDH)

Dr. Klaus Reinhardt
Präsident, Bundesärztekammer (BÄK)

Dr. Holger Vogel
Präsident, Bundestierärztekammer e.V. (BTK)

Prof. Dr. Christoph Benz
Präsident, Bundeszahnärztekammer – Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Zahnärztekammern e.V. (BZÄK)

Dr. Gerald Gaß
Vorstandsvorsitzender, Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V. (DKG)

Prof. Dr. med. Martin Aepfelbacher
Präsident, Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie e.V. (DGHM)

Rainer Stens
Stv. Vorsitzender, Deutsche Gesellschaft für Sterilgutversorgung (DGSV)

Prof. Dr. Martin Exner
Präsident Deutsche Gesellschaft für Allgemeine und Krankenhaus-Hygiene e.V. (DGKH)

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Martin Kramer
Präsident, Deutsche Veterinärmedizinische Gesellschaft e.V. (DVG)

Prof. Dr. Helmut Fickenscher
Vorstand, Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten e.V. (DVV)

Prof. Dr. med. Caroline Herr
Vorstand, Gesellschaft für Hygiene, Umweltmedizin und Präventivmedizin e.V. (GHUP)

Assoc. Prof. Univ. Doz. Dipl.-Ing. Dr. Miranda Suchomel
Präsidentin, Österreichische Gesellschaft für Hygiene, Mikrobiologie und Präventivmedizin (ÖGHMP)

Prof. Dr. Lutz Vossebein
Vorsitzender, Verbund für Angewandte Hygiene e.V. (VAH)
 

Weiterführende Quellen:

Deutsche Gesellschaft für Allgemeine und Krankenhaushygiene e.V. (DGKH). Ethanol darf nicht als CMR eingestuft werden. Hyg-Med 2024;49(9):177-178. Zugriff über https://www.krankenhaushygiene.de/pdfdata/177_178_DGKH_Stellungnahme_Ethanol_HM_9_24.pdf  Dieses Dokument in neuem Tab öffnen und vorlesen

Kramer A, Arvand M, Christiansen B, Dancer S, Eggers M, Exner M, Müller D, Mutters NT, Schwebke I, Pittet D. Ethanol is indis-pensable for virucidal hand antisepsis: memorandum from the alcohol-based hand rub (ABHR) Task Force, WHO Collaborating Centre on Patient Safety, and the Commission for Hospital Hygiene and Infection Prevention (KRINKO), Robert Koch Institute, Berlin, Germany. Antimicrob Resist Infect Control. 2022 Jul 6;11(1):93. doi: 10.1186/s13756-022-01134-7. PMID: 35794648; PMCID: PMC9257567.

Kramer A, Benkhai H, Jäkel C, Zwicker P. Ethanol is indispensable for virucidal hand antisepsis and without toxic risks in daily use. GMS Hyg Infect Control 2023;18:Doc02. DOI: 10.3205/dgkh000428

Kramer A, Borg Dahl M, Bengtsson MM, Boyce JM, Heckmann M, Meister M, Papke R, Pittet D, Reinhard A, Slevogt H, Wang H, Zwicker P, Urich T, Seifert U. No detrimental effect on the hand microbiome of health care staff by frequent alcohol-based anti-sepsis. Am J Infect Control. 2024 Nov 15:S0196-6553(24)00846-0. doi: 10.1016/j.ajic.2024.11.006. Epub ahead of print. PMID: 39551096.

Kramer A, Pittet D, Exner M, Wendt C. Medical associations and expert committees urge that ethanol be approved as a virucidal active substance for use in hand antiseptics under the European Biocidal Products Regulation, without a CMR classification. GMS Hyg Infect Control. 2024 Aug 21;19:Doc40. doi: 10.3205/dgkh000495. PMID: 39224501; PMCID: PMC11367556.

Pires D, Bellissimo-Rodrigues F, Pittet D. Ethanol-based handrubs: Safe for patients and health care workers. Am J Infect Control. 2016 Aug 1;44(8):858-9. doi: 10.1016/j.ajic.2016.02.016. Epub 2016 Apr 15. PMID: 27091229.

Tartari E, Bellissimo-Rodrigues F, Pires D, Fankhauser C, Lotfinejad N, Saito H, Suchomel M, Kramer A, Allegranzi B, Boyce J, Sax H, Stewardson AJ, Pittet D. ICPIC Alcohol-Based Handrub Task Force. Updates and future directions regarding hand hygiene in the healthcare setting: insights from the 3rd ICPIC alcohol-based handrub (ABHR) task force. Antimicrob Resist Infect Control. 2024 Feb;13(1):26. DOI: 10.1186/s13756-024-01374-9

Verbund für Angewandte Hygiene (VAH). VAH: Ethanol ist als biozider Wirkstoff zur hygienischen Händedesinfektion unverzicht-bar [As a biocidal active substance, ethanol is indispensable for hygienic hand disinfection]. HygMed. 2020;45(11):194–200. Zugriff über: https://vah-online.de/files/download/vah-mitteilungen/VAH_Ethanol_HM_11_20_194_200.pdf  Dieses Dokument in neuem Tab öffnen und vorlesen

Weltgesundheitsorganisation (2023): WHO-Liste der unentbehrlichen Arzneimittel – 23. Ausgabe. Genf: Weltgesundheitsorganisation (WHO/MHP/HPS/EML/2023.02).

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