Stellungnahme zu den Anträgen der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE zur Verbesserung der Situation von pflegenden Angehörigen und von Menschen mit Behinderungen

Die Fraktionen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und DIE LINKE haben im Rahmen von verschiedenen Anträgen umfangreiche Vorschläge zur Verbesserung der Situation von pflegenden Angehörigen und von Menschen mit Behinderungen vorgelegt. Die BAG SELBSTHILFE hat hierzu Stellung genommen und viele der Vorschläge begrüßt. Die entsprechende Stellungnahme finden Sie hier.

Als Dachverband von 117 Bundesorganisationen der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen und von 12 Landesarbeitsgemeinschaften begrüßt die BAG SELBSTHILFE die Zielsetzung der Anträge sehr, die Situation der pflegenden Angehörigen und der Menschen mit Behinderung nachhaltig zu verbessern.

Ohne pflegende Angehörige wäre die Corona-Pandemie kaum zu bewältigen gewesen. Als unterstützende Angebote – wie etwa die Tagespflege – wegbrachen, füllten sie die Lücken aus, organisierten manchmal – soweit möglich – andere Hilfen oder übernahmen zusätzliche Pflege- oft auf Kosten der eigenen Gesundheit. Schon vor der Pandemie fühlten sich viele pflegende Angehörige ausgebrannt; dieses Gefühl hat sich durch die Herausforderungen der Pandemie noch erheblich verstärkt – auch wenn natürlich einzelne Erleichterungen – etwa in § 150ff SGB XI – geschaffen wurden.

Nach wie vor erleben leider auch Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen immer wieder Frustrationen in der Organisation ihrer Gesundheitsversorgung. Die Bewilligungsverfahren der Krankenkassen arten oft in eine Art Papierkrieg aus, beantragte Hilfsmittel werden immer wieder erst nach Widersprüchen und Klageverfahren bewilligt. Betroffene und ihre Angehörigen fühlen sich oft zermürbt von den immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen mit den Kostenträgern und Medizinischen Diensten. Viele gute gesetzliche und untergesetzliche Verbesserungen aus den letzten Jahren, etwa die Überarbeitung des Hilfsmittelverzeichnisses, scheinen kaum bei den Betroffenen anzukommen. Insgesamt werden so Menschen mit einer schwierigen Organisation ihrer eigenen Gesunderhaltung oder der ihres Kindes belastet, die ohnehin oft schon mit vielen anderen Dingen zu kämpfen haben, die für andere selbstverständlich sind, wie etwa der Zugang zu Dienstleistungen. Insoweit begrüßt es die BAG SELBSTHILFE sehr, dass der Antrag eine Vielzahl von Vorschlägen entwickelt hat, wie diese – oft sehr belastende - Situation der Betroffen erleichtert werden kann.

1. Antrag der Fraktion DIE LINKE Rentenplus für pflegende Angehörige und Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Bessere Vereinbarkeit von Angehörigenpflege und Beruf durch eine Pflegezeit Plus

Die BAG SELBSTHILFE teilt den Befund der Fraktionen, dass die Übernahme von Pflege für viele pflegende Angehörige erhebliche finanzielle Einbußen bei der Rente zur Folge hat – während der gesellschaftliche finanzielle Nutzen, insbesondere hinsichtlich der Kosten der Pflegeversicherung, der Entwicklung der Lohnnebenkosten und der Kosten für die Sozialhilfe auf der anderen Seite erheblich sein dürften.

Dies ist umso erschreckender als die rentenrechtlichen Regelungen dann auch noch zusätzlich den im Antrag der Fraktion DIE LINKE beschriebenen Anreiz zur eigenen Überforderung und Selbstausbeutung beinhalten.

Insoweit unterstützt die BAG SELBSTHILFE ausdrücklich die Forderungen der Fraktion DIE LINKE und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN nach einer besseren rentenrechtlichen Absicherung der Betroffenen. Dies betrifft insbesondere die im Antrag der Fraktion DIE LINKE dargestellten rentenrechtlichen Folgen der Inanspruchnahme der verschiedenen Versorgungsformen wie ausschließlicher Pflegegeldbezug, Kombinationsleistungen oder alleinige Nutzung von Pflegesachleistungen; denn derzeit beinhaltet das System das Risiko, dass pflegende Angehörige auf Hilfe von außen verzichten, um nicht Verschlechterungen in Kauf nehmen zu müssen. Dieses kann jedoch sowohl ihre eigene Gesundheit, aber auch die Gesundheit des Pflegebedürftigen gefährden, wenn etwa aufgrund der Überforderung die Situation nicht mehr adäquat eingeschätzt werden kann.

Auch die von beiden Fraktionen vorgeschlagene bezahlte Freistellung zur Organisation der Hilfen für den pflegebedürftigen Angehörigen wird befürwortet, da sie eine erhebliche Entlastung der Betroffenen darstellen können. Dies ist umso wichtiger, als wichtige Hilfestellungen – wie sie etwa Pflegestützpunkte bieten – nach wie vor noch nicht flächendeckend in hinreichender Beratungsqualität vorhanden sind.

Insgesamt hält es die BAG SELBSTHILFE für dringend erforderlich, dass eine steuerfinanzierte Freistellung und Lohnersatzleistung – entsprechend dem Elterngeld – für die Pflege von Angehörigen eingeführt wird. Insoweit begrüßt sie die entsprechenden Vorschläge der Fraktionen sehr, die in diese Richtung gehen.

Schließlich wird es auch nachdrücklich das Anliegen im Antrag der Fraktion DIE LINKE unterstützt, die Sperrfrist wegen Eigenkündigung durch die Arbeitsämter abzuschaffen. Angesichts des beschriebenen Nutzens einer Pflege eines Angehörigen ist eine solche Sanktion für die Betroffenen kaum vermittelbar und auch gesellschaftlich kontraproduktiv, weil sie Akte der mitmenschlichen Solidarität unter eine finanzielle Sanktion stellt und so der Entsolidarisierung der Gesellschaft Vorschub leistet.

2. Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen unverzüglich menschenrechtskonform gestalten

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt sowohl die dargestellten Feststellungen im Antrag als auch die die Umsetzungsvorschläge explizit:

a. Disability Mainstreaming (Nr. 1)

Zu Recht wird im Antrag gefordert, die bestehenden Gesetze auf ihre Auswirkungen aus Menschen mit Behinderungen durchzusehen. Denn häufig sind Gesetze nicht im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention, weil die Lebenslagen und Lebensumstände von Menschen mit Behinderungen im Prozess nicht berücksichtigt wurden; gerade im Bereich der Information über die Corona-Pandemie wurden diese Defizite deutlich, als am Anfang zu wenig barrierefreie Informationen vorhanden waren. Wie der Antrag konstatiert, fehlen ja auch in vielen Gesundheitsberufen in der Ausbildung Informationen über Probleme und Herausforderungen von Menschen mit Behinderungen; gerade diese Defizite führen aber auch dazu, dass diese Lebenswelten bei der Erstellung von Gesetzen, aber auch bei deren Umsetzung in die Praxis, zu wenig berücksichtigt werden. In vielen Fällen müssen dann entstehende Versorgungsdefizite aufwändig korrigiert, anstatt von Anfang an auf eine Ausgestaltung für Menschen mit Behinderung zu achten. So ist es beispielsweise zwar einerseits sehr zu begrüßen, dass DiGAs barrierefrei sein sollen; da jedoch die Feststellung der Barrierefreiheit nur auf Herstellerangaben und nicht auf Nutzertestungen von Menschen mit Behinderungen beruht, ist diese eben nicht wirklich sichergestellt. Das Beispiel zeigt aber auch, dass ein wirkliches Disability Mainstreaming nur gelingen wird, wenn eine angemessene Betroffenenbeteiligung bei dieser Durchsicht der staatlichen Maßnahmen stattfindet.

b. Sicherstellung der Barrierefreiheit von Gesundheitseinrichtungen (Nr. 2- 6)

An sich ist Deutschland nach der UN-BRK bereits seit deren Ratifizierung 2009 verpflichtet, alle Gesundheitsangebote barrierefrei auszugestalten. Dies betrifft nicht nur die Neuzulassungen, sondern auch die Barrierefreiheit der bestehenden Einrichtungen.

Die BAG SELBSTHILFE sieht jedoch auch, dass eine sofortige Umsetzung der Barrierefreiheit in allen Arzt- und Heilmittelpraxen sowie den Hilfsmittelerbringern derzeit nicht ad hoc umsetzbar ist. Insoweit sieht sie die im Antrag vorgeschlagenen Maßnahmen als einen sehr sinnvollen Zwischenschritt zu einem barrierefrei ausgestalteten Gesundheitssystem, in dem alle Menschen gleichberechtigen Zugang zu allen Angeboten haben. Über die vorgeschlagenen Maßnahmen hinaus schlägt die BAG SELBSTHIFLE vor, eine Roadmap zu entwickeln, innerhalb welchen Zeitraums eine solche Umsetzung mit welchen Zwischenschritten gelingen soll.

Da sich die Barrierefreiheit nicht nur in der baulichen Zugänglichkeit der Gesundheitseinrichtungen erschöpft, sondern auch die kommunikative Zugänglichkeit beinhaltet, wird im Antrag zu Recht gefordert, dass sowohl die Aus- und Fortbildung der Beschäftigten entsprechend ausgerichtet sein muss als auch Informationen nach dem Zwei Sinne Prinzip und in Leichter Sprache bereitstehen müssen. Diese Maßgabe muss für alle Gesundheitseinrichtungen gelten.

Darüber hinaus ist es leider so, dass es nach wie vor Berichte gibt, dass Menschen mit Behinderungen in manchen Arztpraxen wegen des erhöhten Zeitaufwandes für ihre Behandlung weniger willkommen sind; auch scheint es Unsicherheiten im Umgang zu geben. Hier können weitere Veränderungen im EBM hilfreich sein, welche zu einer günstigeren Vergütung führen, wie sie auch im Antrag gefordert wurden; zudem sollten Ausbildungsinhalte, welche Menschen mit Behinderungen betreffen, in bestehende fachliche Fort- und Ausbildungsinhalte integriert werden, da spezialisierte Angebote, die die Versorgung von Menschen mit Behinderung betreffen, von den Ärzten oft nicht wahrgenommen werden und so die notwendigen Informationen nicht transportiert werden können.

c. Hilfsmittelversorgung (Nr. 11 ff.)

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt die vorgeschlagenen Maßnahmen nachdrücklich. Dies gilt insbesondere für die vorgesehene Überarbeitung der Regelungen zur Genehmigungsfiktion und die Berichtspflichten von Ablehnungen, Widersprüchen und Sozialgerichtsverfahren im Hilfsmittelbereich.

Leider hat die neuere Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes dazu geführt, dass die Genehmigungsfiktion im Hilfsmittelbereich (Fiktion einer Genehmigung nach fehlender Reaktion der Krankenkasse) in vielen Fällen, insbesondere bei Menschen ohne größere finanzielle Ressourcen, ins Leere läuft. Denn die Genehmigungsfiktion wird als Kostenerstattungsregelung begriffen, was bedeutet, dass die Menschen die Kosten des Hilfsmittels erst einmal vorstrecken und dann einklagen müssen. Frühere Urteile waren von einem Sachleistungsanspruch ausgegangen, was auch sachgerecht wäre. Insoweit sollte gesetzlich klargestellt werden, dass die Betroffenen wahlweise sowohl einen Sachleistungs- als auch einen Kostenerstattungsanspruch haben; darüber hinaus sollte auch zur Vereinheitlichung auch im SGB IX für die dortige Regelung (2 Monate) die im SGB V geltenden Fristen (3 bzw. 5 Wochen) übernommen werden, da sonst unklar ist, wann die Genehmigungsfiktion eintritt. Denn das BSG nimmt teilweise bei Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich eine Geltung der Frist aus dem SGB IX an, mit der Folge der Geltung der 2-Monatsfrist. Dies führt bei den Betroffenen zu einem erheblichen Prozessrisiko.

Auch Berichtspflichten zum Anteil der Ablehnungen, Widersprüchen und Sozialgerichtsverfahren werden als sinnvoll angesehen. In vielen Fällen haben Betroffene den Eindruck, dass ein eigentlich bestehender Anspruch erst einmal in der Hoffnung abgelehnt wird, dass die Antragssteller nicht in Widerspruch gehen; diese Hoffnung ist zu einem erheblichen Teil leider zutreffend. Eine solche Strategie zermürbt aber die Betroffenen und kostet Kraft, die sie an anderer Stelle dringend benötigen, etwa zur Bewältigung der Folgen der Erkrankung und Behinderung. Insgesamt befürwortet die BAG SELBSTHILFE nicht nur Berichtspflichten für die Krankenkassen, sondern auch Veröffentlichungspflichten, damit Versicherte sich schon frühzeitig informieren können, welche Krankenkasse sich um einen fairen Umgang mit ihren Versicherten bemüht. Wichtig wäre bei einer solchen Veröffentlichung auch, innerhalb welcher Fristen die Anträge bewilligt werden und ob es Beanstandungen des BAS gab, die die Ausgestaltung von Bescheiden betrafen.

Ein besonderes Problem ist zudem – wie es auch der Antrag darstellt – die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum mittelbaren und unmittelbaren Behinderungsausgleich, die im Grunde Behinderungen 1. Und 2. Klasse schafft. Bei Menschen, die einen unmittelbaren Behinderungsgleich benötigen (die Funktion eines ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperteils wird durch ein Hilfsmittel unmittelbar ersetzt, etwa durch Prothesen) haben Anspruch auf umfassenden Behinderungsausgleich; Menschen, die einen mittelbaren Behinderungsausgleich benötigen (die Funktion eines beeinträchtigten oder ausgefallenen Körperteils wird nur indirekt ersetzt, etwa durch einen Rollstuhl), werden nur die Hilfsmittel erstattet, die die Grundbedürfnisse befriedigen. In der Folge gibt es demütigende Diskussionen darüber, welcher Umkreis um eine Wohnung, noch zu den Grundbedürfnissen zählt und ob die Betreffenden insoweit einen Anspruch auf Erstattung eine E-Rollstuhls haben. Diese Unterscheidung widerspricht nicht nur Art. 3 Abs. 2 S. 2 (niemand darf wegen seiner Behinderung benachteilt werden), sondern auch der UN-BRK, die eben keine Behinderungsausgleiche erster und zweiter Klasse kennt.

Insgesamt hat es unserer Wahrnehmung nach in den letzten Jahren durchaus Bemühungen seitens der Krankenkassen gegeben, die Qualität der Versorgung zu verbessern. Dies betrifft insbesondere Verbesserungen im Hilfsmittelverzeichnis; auch die Einbeziehung der Patientenvertretung hat sich dort sehr verbessert. Es steht zu hoffen, dass sich dies – insbesondere bei der Zurverfügungstellung von notwendigen Unterlagen – weiter verbessert, da auf diese Weise Versorgungsprobleme erkannt und früher behoben werden können. Gleichzeitig scheinen diese Verbesserungen noch zu wenig bei den Betroffenen anzukommen; hier wäre ein weitergehendes Monitoring über den Erfolg der Maßnahmen, wie es auch der Antrag fordert, wichtig und erforderlich.

d. Abschaffung der Zuzahlungen (Nr. 24)

Aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE sind gerade Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen durch eine Vielzahl von Kosten belastet, welche durch oder mit ihrer Erkrankung anfallen; hinzu kommt, dass einige Dinge wie Zahnersatz nicht mehr unter das Sachleistungsprinzip fallen, ohne dass es dafür einen wirklichen Grund gibt. Vor diesem Hintergrund sollten dringend schrittweise alle Zu- und Aufzahlungen, Festbetragsregelungen und Leistungsausschlüsse  zurückgefahren werden, damit diejenigen, die ohnehin durch Erkrankungen belastet sind, nicht auch noch in finanzielle Schwierigkeiten geraten oder bestimmte gesundheitliche Maßnahmen wegen der Kosten nicht wahrnehmen können – mit dem Risiko von weiteren Verschlechterungen ihrer gesundheitlichen Situation.

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