Insgesamt nimmt die BAG SELBSTHILFE zu den Fragen wie folgt Stellung:
Wie stehen die Betroffenenverbände zu der Idee aus dem Gutachten von Prof. Rothgang et al. (2025), Pflegegeld an Pflegepersonen auszuzahlen in Verbindung mit einer „Verpflichtung“ der jeweiligen Pflegeperson zur Versorgung (sogenanntes Pflegegeld 2.0)? (siehe zur Erläuterung den beigefügten Auszug aus dem Gutachten)
Bisher wurde diese Frage noch nicht breit in der Mitgliedschaft diskutiert, so dass es dazu noch keine verbandliche Meinung gibt. Im Grundsatz wird eine Auszahlung an die Pflegeperson begrüßt; gleichzeitig wird das Risiko gesehen, dass durch die Qualitätsprüfungen noch zusätzlicher bürokratischer Aufwand für die Angehörigen entsteht, da dann auch diesbezüglich Diskussionen mit den medizinischen Diensten entstehen können. Zudem stellt sich aus unserer Sicht die Frage, ob die Medizinischen Dienste entsprechendes Personal für diese Aufgabe haben bzw. ob die für die Qualitätsprüfungen benötigten Pflegefachkräfte dann nicht in der Versorgung fehlen.
Verhinderungspflege: Wie wird das Budget eingesetzt? Für „pflegerische Notfälle“ oder vor allem als „regelhafte“ Leistung (= stundenweise) und wer leistet vor allem die Verhinderungspflege (z.B. professionelle Anbieter oder Nahestehende)?
Die Verhinderungspflege für Kinder wird vorwiegend von Nahestehenden geleistet, hauptsächlich als regelhafte Leistung, um der Pflegeperson Arzt- oder Therapeutenbesuche, langwierige Einkäufe, Geschwisteraktivitäten, Ausgleichszeiten o. ä, zu ermöglichen, aber natürlich auch in „pflegerischen Notfällen“. Anders gestaltet es sich bei betroffenen Erwachsenen, hier wird sie zwar auch regelhaft in Anspruch genommen, seltener jedoch von Nahestehenden.
Insgesamt ist die Verhinderungspflege nach wie vor die wichtigste Hilfeart der Pflegeversicherung, um Eltern behinderter Kinder Entlastung bei der Pflege zu verschaffen und Betreuungsengpässe – wie z. B. in den Ferienzeiten – zu überbrücken.
Nach der derzeitigen Rechtslage stehen allerdings steuerrechtliche und damit letztlich auch bürokratische Hürden einer vereinfachten Inanspruchnahme der Verhinderungspflege entgegen.
Steuerfrei sind Einnahmen bis zur Höhe des Pflegegeldes für die Pflege nämlich nach § 3 Nr. 36 EstG nur dann, wenn die Pflege von Angehörigen des Pflegebedürftigen oder von anderen Personen, die damit eine sittliche Pflicht im Sinne des § 33 Absatz 2 EStG gegenüber dem Pflegebedürftigen erfüllen, erbracht wird. Eine sittliche Pflicht, eine Person zu pflegen, wird angenommen, wenn zwischen dem Pflegebedürftigen und der Pflegeperson eine enge persönliche Beziehung besteht. Wird die Verhinderungspflege also von Nachbarn, entfernteren Freunden oder gar Bekannten geleistet, sind die Einnahmen hieraus von den Pflegenden zu versteuern. Eine solche Steuerpflicht sollte vermieden werden, um die Pflegebereitschaft der betreffenden Personen zu erhöhen und die Verhinderungspflege zu vereinfachen. Insgesamt sollten alle Entlastungsleistungen der Pflegeversicherung entsprechend dem Vorbild der Verhinderungspflege flexibel gestaltet werden und steuerrechtliche Hindernisse, die einer vereinfachten Inanspruchnahme der Verhinderungspflege entgegenstehen, beseitigt werden.
Laut Auswertung des VdK (VDK Pflegestudie 2023 Hochschule Osnabrück, Abschlussbericht Bayern.) findet Verhinderungspflege zu 60% für 1 bis 24 Stunden, zu 14 % für 25 bis 48 Stunden statt; es ist zu vermuten, dass es sich meist um regelhafte Inanspruchnahme handelt. Die Verhinderungspflege wird zu 50 Prozent durch eine andere Person für 2 Tage durchgeführt, zu rund 34 Prozent durch einen Pflegedienst für einige Stunden in der Woche, zu rund 9 Prozent durch einen Pflegedienst für 2 Tage oder länger; zu rund 7 Prozent wird der Betrag nur für die Bezahlung einer 24-Stunden-Pflege zuhause eingesetzt.
Nachfrage nach Tagespflegeleistungen: In welchem Umfang wird der tatsächliche Bedarf geschätzt und wie passt dieser zum Angebot?
Leider liegen uns dazu keine eigenen Zahlen vor, nach der erwähnten VdK-Studie haben jedoch 93 Prozent der Befragten keinen Zugang zur Tagespflege gefunden.
Nach den Rückmeldungen unserer Verbände besteht allgemein akuter Bedarf an Tages- und Kurzzeitpflegeplätzen. Für Menschen mit bestimmten Erkrankungen, wie etwa Ichthyosebetroffene, gibt es überhaupt keine Tagespflege, da die Einrichtungen für die pflegerischen Tätigkeiten – weder für Kinder noch für Erwachsene – nicht ausgerüstet sind.
Aber auch bei Kindern und Jugendlichen sowie Erwachsenen mit Behinderung gibt es kaum Angebote. Diese Leistung läuft deshalb für die betroffenen Versicherten in der Regel ins Leere. Hier muss dringend nachgesteuert werden. Für Menschen mit Behinderung wäre eine Regelung zielführend, welche die zumindest teilweise Umwandlung des Budgets für die Tages- und Nachtpflege zur Nutzung von Angeboten zur Unterstützung im Alltag vorsieht. Da Menschen mit Behinderung die Leistung der Tages- und Nachtpflege in der Regel mangels passender Angebote nicht nutzen können, verfällt dieser Anspruch zum Jahresende. Ein Einsatz als niedrigschwellige Entlastungsleistungen nach § 45a SGB XI würde jedoch einen Beitrag zur Entlastung der Pflegeperson leisten können.
Für Leistungen der Kurzzeitpflege gilt: Hier ist sicherzustellen, dass jeder Landkreis und jede kreisfreie Stadt gemessen an der Bevölkerungszahl eine ausreichende Anzahl an Kurzzeitpflegeplätzen für Menschen mit Behinderung vorhalten muss, damit die Inanspruchnahme von Kurzzeitpflege für alle Betroffenen ermöglicht wird und in Wohnortnähe stattfinden kann. Zudem müssen spezielle Angebote der Kurzzeitpflege für Menschen mit Behinderung geschaffen werden, die die spezifischen Bedarfe und das Alter der Menschen mit Behinderung berücksichtigen. Angebote der Kurzzeitpflege, die sich an Kinder und Jugendliche mit Behinderung richten, müssen über qualifizierte, pädagogische Konzepte verfügen. Die Behandlungspflege während der Kurzzeitpflege muss auch bei hohem Bedarf, insbesondere bei Versicherten mit Anspruch auf AKI nach § 37c SGB V, sichergestellt sein. Die Pflegekassen sollten verpflichtet werden Informationsangebote zur Kurzzeitpflege auszubauen und vorhalten, auf Einrichtungen zur Entlastung in Wohnortnähe aufmerksam machen und bei den Formalitäten unterstützend wirken.
Wie schätzen Sie die Verfügbarkeit von Pflegekursen (in Präsenz und digital) ein?
Nach der erwähnten Studie des VdK hatten nur 16,5 % von 5896 Angehörigen an einem Pflegekurs oder einer Schulung teilgenommen. Die Gründe für die Nichtteilnahme waren in erster Linie mangelnde Zeit (36,3 %), sowie das fehlende Wissen über Angebote (29%).
Dies trifft sich mit den Rückmeldungen unserer Verbände: Leider gibt es in vielen Erkrankungsbereichen keine Pflegekurse, die sich mit der Pflege der entsprechenden Erkrankung auch nur annähernd auskennen. Die Selbsthilfe füllt diese Lücke und gibt offenbar teilweise entsprechende Seminare für Angehörige und interessierte Pflegekräfte.
Wie können die pflegerischen und pflegebezogenen Kompetenzen von Assistenz- und Hilfskräften, pflegenden An- und Zugehörigen, ehrenamtlich Engagierten und der Allgemeinbevölkerung flächendeckend und systematisch gestärkt werden? Welche Anreize können insbesondere für Menschen, die nicht mehr im Erwerbsleben stehen, für eine Übernahme von pflegerischen Unterstützungstätigkeiten gesetzt werden?
Von unseren Verbänden wurden folgende Maßnahmen zu den Fragen genannt, die fördernd wirken können:
Wie können die pflegerischen und pflegebezogenen Kompetenzen von Assistenz- und Hilfskräften, pflegenden An- und Zugehörigen, ehrenamtlich Engagierten und der Allgemeinbevölkerung flächendeckend und systematisch gestärkt werden?
- Breit angelegte Aufklärung darüber, welche Beratungs- und Unterstützungsangebote es gibt und dass eine vorausschauende Nutzung derselben sinnvoll ist. Sie müssen neutral, ergebnisoffen, kostenträgerunabhängig, flächendeckend und barrierefrei sein.
- Das politisches Bewusstsein darüber, dass Pflege kein reines Altersthema ist, muss gestärkt werden. Im Zuge der Umsetzung des BTHG müssen alltagstaugliche Lösungen an den Schnittstellen u.a. zwischen SGB V und IX sowie zwischen SGB IX und XI gefunden werden.
- Assistenzleistende, deren Tätigkeit auch pflegerische Inhalte hat, müssen mehr beachtet werden.
- Ein mögliches Konzept ist die Förderung von Pflege- bzw. Assistenz-genossenschaften. Professionelle Pflegekräfte können unterstützend, beratend und im Falle von nötiger Verhinderungspflege eingesetzt werden.
- Die Bedeutung der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe im Allgemeinen hinsichtlich ihrer zielgruppenspezifischen Ansprache und ihres präventiven Charakters sowohl was Gesundheit als auch Pflegebedürftigkeit betrifft, muss erkannt und gefördert werden (Pauschalförderung Dachverbände ermöglichen).
- Die Pflegebezogene Selbsthilfearbeit im speziellen muss besser gefördert werden. Bestehende Fördermittel (§ 45d SGB XI) werden aufgrund bürokratischer Hürden und unbegründeter Angst vor Doppelförderung (§ 20h SGB V) nicht oder zu zögerlich genehmigt und längst nicht voll ausgeschöpft. Eine Erhöhung von 0,15 auf 0,20 Euro pro Versicherten ändert daran nichts.
Welche Anreize können insbesondere für Menschen, die nicht mehr im Erwerbsleben stehen, für eine Übernahme von pflegerischen Unterstützungstätigkeiten gesetzt werden?
- Menschen, die nicht mehr im Erwerbsleben stehen, sind in der Regel selbst vermehrt mit gesundheitlichen Problemen konfrontiert. Ein mehr auf Patien*innen zugeschnittenes, transparenteres und unbürokratischeres Gesundheits- und Pflegesystem würde diese nicht nur entlasten, sondern auch ermutigen und ermächtigen selbst aktiv einzutreten.
- Finanzielle Anreize (Anrechnung auf Rente)
- Altersgerechte Unterstützung- und Beratungsangebote
- Anwenderfreundliche Umsetzung digitaler Angebote mit entsprechenden niedrigschwelligen Schulungsangeboten
- Zu beachten ist, dass durch vermehrte Unterstützungstätigkeiten dieser Personengruppen im ehrenamtlichen Kontext der generelle Personalmangel nicht kompensiert werden kann
Wie können im Sozialraum Pflegebedürftiger vorhandene Unterstützungs-möglichkeiten – wie z. B. Ehrenamt, Nachbarschaftshilfe oder auch Programme wie „Wohnen gegen Hilfe“ – systematisch in die pflegerische Versorgung eingebunden werden, um pflegende An- und Zugehörige zu unterstützen? Welche Akteure eignen sich am besten, um diese Ressourcen in die Versorgungsplanung einzubinden?
Seitens der Verbände wurden folgende Maßnahmen für sinnvoll gehalten:
- Mehr Anreize für innovative quartiersnahe Wohnformen
- Versorgungssteuernde Konzepte zur hausärztlichen Koordination
- flächendeckender Ausbau von niedrigschwelligen, gemeindlichen Kümmererstrukturen in Form der aufsuchenden Beratung und ganzheitlichen praktischen Hilfe für Bürgerinnen und Bürger mit individuellen Unterstützungsbedarfen, die auch Potenziale der Selbsthilfe und des Empowerments sowie des Ehrenamts entfalten.
- Ausarbeitung von Rollenkonzepten für Pflegefachpersonen nach internationalem Vorbild, um die Gesundheitsversorgung zu stärken. Community Health Nursing muss dabei als zentrale Chance für flächendeckende und gelingende Präventionsarbeit begriffen werden.
- Die Schaffung oder Förderung von Angeboten im öffentlichen Raum (z. B. Mittagstische oder Spieleangebote) zur Begegnung, Teilhabe und gegenseitigen Unterstützung, die auch die Vernetzung pflegender Angehöriger fördern.
- Stärkung der Selbsthilfe-Strukturen (siehe oben)
- Fördermöglichkeiten für Begegnungsstätten oder Tagespflegeplätze, die präventive Maßnahmen, wie z. B. präventive Hausbesuche für Menschen im Vorfeld der Pflege einschließt.
- Auf- und Ausbau von Strukturen wie Pflegestützpunkten, Fachstellen für Demenz und Pflege und Fachstellen für pflegende Angehörige.
Insgesamt gilt dafür: Wollte man bereits vorhandene Unterstützungsmöglichkeiten systematisch in die pflegerische Versorgung einbinden, müsste man eine Art Lotsen finden, der 1. alle Angebote und Möglichkeiten kennt und 2. abschätzen kann, für wen welche Möglichkeit/welches Angebot sinnvoll ist. Aus der Sicht der Verbände sollte dieser Loste aus dem Öffentlichen Dienst kommen, um finanzielle Interessen auszuschließen. Anbieten würde sich die „Beratungsstelle für Menschen mit Pflegebedarf“ in den Städten, Gemeinden bzw. Landkreisen.
Es müsste verdeutlicht werden, dass sich dieses Angebot nicht nur auf Seniorinnen und Senioren begrenzt, sondern sich auch auf Menschen mit Behinderungen und Menschen mit chronischen und seltenen Erkrankungen bezieht.
Welche Erklärung gibt es aus Ihrer Sicht für den auch in hohen Pflegegraden hohen Anteil der reinen Pflegegeldempfänger?
Aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE hat dies überwiegend finanzielle Gründe. Pflegeversicherungsleistungen sind grundsätzlich nicht kostendeckend angelegt. Angesichts der hohen Stundensätzen professioneller Dienste entsteht auch bei dem höheren Sachleistungsbetrag eine erhebliche Lücke in der Versorgung/ Finanzierung. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass vielen Pflegebedürftige und Pflegenden auf die Geldleistungen zurückgreifen und die Versorgung möglichst selbst erbringen. Zudem gibt es bei vielen Erkrankungen Angebotsengpässe, da die Versorgung im ambulanten Bereich nicht auf bestimmte Erkrankungen ausgerichtet ist, insbes. bei seltenen Erkrankungen. Bei den Erkrankungen, die im Wesentlichen Kinder betriff, erklärt sich dies auch aus der Art der Beziehung.
Welche Erkenntnisse gibt es bei Ihnen zu dem hohen Anteil an Kombinationsleistungsempfängern bei Sachleistungsbezug: Erfolgt die Nichtausschöpfung des vollen Sachleistungsbetrags aufgrund von Angebotsengpässen oder besteht kein weitergehender Bedarf an Sachleistungen?
Aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE gibt es sowohl finanzielle Probleme als auch Angebotsengpässe. Bei vielen seltenen Erkrankungen liegt es an Angebotsengpässen im ambulanten Bereich. Die Versorgung ist nicht auf die jeweilige Erkrankung ausgelegt und aufgrund von Personalengpässen können Patienten oftmals gar nicht erst versorgt werden. Das ist insbesondere für junge Erwachsene ein Problem, die damit abhängig von ihrer Familie bleiben.
Ergänzend: Anmerkungen zum Thema Beratungsangebote
Grundsätzlich folgt bei der Frage nach konkreten Hilfsangeboten - neben Geld und Entlastungsangeboten – auch immer der Wunsch nach Beratung, wobei neben sozialrechtlichen und finanziellen Fragen auch Fragen zu fachlichen Inhalten, Hilfsmitteln etc. gemeint sind. Es gibt zahlreiche Beratungsangebote, das Angebot ist jedoch schwer überschaubar und selten neutral, ergebnisoffen kostenträgerunabhängig. Zudem regional nicht gleichmäßig verteilt und nicht immer barrierefrei. Bei der Beratung muss mehr beachtet werden, dass sie nicht nur auf (potentiell) Pflegende sondern auch für von Pflegebedarf betroffene Personen zugeschnitten sein muss. Oftmals ist es eher die Entscheidung der Angehörigen über die Versorgung eines pflegebedürftigen Menschen, als dessen eigene. Pflegende An- und Zugehörige erfahren nicht genug fachpflegerische Unterstützung, insbesondere in Notfall- und Krisensituationen.