Stellungnahme zu verbesserten Versorgungs- und Behandlungsmöglichkeiten von Lipödem- Betroffenen

– Anhörung im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 21.06.2023 –

Die Versorgung von Lipödem-Betroffenen in Deutschland ist nach wie vor völlig unzureichend. Ursache hierfür ist ein Versagen der Steuerungsgremien des Ge-sundheitswesens bei der Beurteilung der zur Behandlung des Lipödems zur Verfü-gung stehenden Therapieoptionen.

Es fehlt auch an ausreichenden Aufklärungsmöglichkeiten für die Betroffenen und an einer zielgerichteten Evidenzgenerierung durch Forschungsförderung.

1) Grundlagen einer bedarfsgerechten medizinischen Versorgung

Nach § 92 Absatz 1 SGB V hat der Gemeinsame Bundesausschuss die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten zu beschließen. Damit hat der Gemeinsame Bundesausschuss den deutlichen Auftrag einzelfallübergreifend den Versicherten eine klare Orientierung über die Ausgestaltung der Versorgung zu geben.

Maßstab hierfür ist die Frage, ob eine bestimmte Versorgung einen Nutzen für die Patienten bringt.

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) überprüft nämlich gemäß gesetzlichem Auftrag nach § 135 Absatz 1  SGB V für die ambulante vertragsärztliche Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten neue ärztliche Methoden daraufhin, ob der therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit nach gegenwärtigem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse als erfüllt angesehen werden können.

Auf der Grundlage des Ergebnisses dieser Überprüfung entscheidet der G-BA darüber, ob eine neue Methode zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden darf.

Ergibt die Überprüfung, dass nach Bewertung der therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit der Methode nach gegenwärtigem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse als erfüllt anzusehen sind, beschließt der G-BA, die Methode als anerkannte Methode aufzunehmen.

2) Kuriose Differenzierung der Bewertungsentscheidung des Gemeinsamen Bundesausschuss bei der Bewertung der Liposuktion bei Lipödem

Am 20.03.2014 hatte die Patientenvertretung beim Gemeinsamen Bundesausschuss durch ihren Antrag ein Prüfverfahren zur Liposuktion bei Lipödem in Gang gesetzt. Es ging der Patientenvertretung darum, eine einzelfallübergreifende Klärung zur ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung bei Lipödem herbei zu führen.

Es sollte Schluss sein mit undurchsichtigen Einzelfallprüfungen für die betroffenen Frauen.

Nach Antragstellung schlossen sich jahrelange Beratungen beim Gemeinsamen Bundesausschuss an. Schon hierdurch ging sehr viel Zeit für die betroffenen Frauen verloren.

In den sog. tragenden Gründen seines Beschlusses vom 19.09.2019 hat der Gemeinsame Bundesausschuss die Ausgangslage für die Betroffenen dann durchaus zutreffend beschrieben:

„Das Lipödem ist eine chronische, progredient verlaufende Erkrankung, die durch eine Fettverteilungsstörung mit deutlicher Disproportion zwischen Körperstamm und Extremitäten gekennzeichnet ist. Diese entsteht aufgrund einer umschriebenen symmetrisch lokalisierten Unterhautfettgewebsvermehrung der unteren oder der oberen Extremitäten oder auch beider. Zusätzlich bestehen Ödeme, die durch Orthostase verstärkt werden, sowie eine Hämatomneigung nach Bagatelltraumen. Charakteristisch ist außerdem ein gesteigertes Spannungsgefühl mit Berührungs- und Druckschmerzhaftigkeit; meist bestehen Spontanschmerzen.

Die Krankheit tritt nahezu ausschließlich bei Frauen auf. Das Lipödem beginnt in der Regel in einer Phase hormoneller Veränderungen wie Pubertät, Schwangerschaft oder Klimakterium. Die Ätiologie ist unbekannt. Die genauen Pathomechanismen und die spezielle Rolle der Hormone und ihrer Rezeptoren sind ebenfalls nicht geklärt. Für bis zu 60 % der Fälle wird in der Literatur eine genetische Komponente mit familiärer Häufung des Lipödems angenommen. Die entsprechende Fettgewebsvermehrung ist Folge einer Hypertrophie und Hyperplasie der Fettzellen. Zusätzlich liegt eine Kapillarpermeabilitätsstörung vor, wodurch vermehrt Flüssigkeit aus dem Gefäßsystem ins Interstitium gelangt. Die erhöhte Kapillarfragilität bedingt die Neigung zur Hämatombildung. Darüber hinaus sind Veränderungen des Bindegewebes zu beobachten.

Aufgrund des vermehrten Flüssigkeitsangebotes reagiert das zunächst intakte Lymphgefäßsystem mit einem gesteigerten Lymphtransport. Kann die überwiegend in den abhängigen Körperpartien anfallende Gewebsflüssigkeit nicht mehr ausreichend abtransportiert werden, kommt es zu Ödemen. Im Laufe der Jahre kann eine Zunahme von subkutanem Fett mit Wulstbildung und Ödem entstehen.

In der 10. Revision der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) gibt es seit der Version 2017 eine stadienspezifische Codierung für das Lipödem. Das in die vorliegende Bewertung einbezogene Lipödem im Stadium III mit dem Code E88.22 wird darin definiert als „Lokalisierte schmerzhafte symmetrische Lipohypertrophie der Extremitäten mit Ödem, mit ausgeprägter Umfangsvermehrung und großlappig überhängenden Gewebeanteilen von Haut und Subkutis.“

Die Therapie des Lipödems verfolgt zwei Ziele:

a) Die Beseitigung oder Besserung der Befunde und der Beschwerden (besonders Schmerzen, Ödem und disproportionaler Fettgewebsvermehrung zwischen Extremitäten und Rumpf).

b) Die Verhinderung von Komplikationen. Bei fortschreitender Befundausprägung mit Zunahme v. a. der Beinvolumina steigt das Risiko von dermatologischen (z. B. Mazerationen, Infektionen), lymphatischen (z. B. Erysipel, Lymphödem) und orthopädischen Komplikationen (Gangbildstörungen, Achsenfehlstellungen).

Eine kausale Therapie steht derzeit nicht zur Verfügung. Die symptomatisch-konservativen Maßnahmen erfolgen stadienindiziert und individualisiert. Dabei stehen derzeit lediglich physikalische Maßnahmen beispielsweise in Form der kombinierten physikalischen Entstauungstherapie (KPE) zur Verfügung. Die KPE beinhaltet manuelle Lymphdrainage, Kompression, Bewegungstherapie und Hautpflege. Diese Methode bewirkt durch ihre Ödemreduzierung in begrenztem Maße eine Umfangsreduzierung sowie eine Linderung der Schmerzen.

Insbesondere Entstauungs- und Kompressionsmaßnahmen müssen konsequent angewandt und lebenslang wiederholt werden.

Die bestehende Fettvermehrung kann durch die KPE jedoch nicht beeinflusst werden. Für eine Reduktion des krankhaft vermehrten Fettgewebes wird in Fachkreisen übereinstimmend die Tumeszenz-Liposuktion (im Folgenden: Liposuktion) als derzeit insbesondere zur Vermeidung von Schäden am Lymphsystem bevorzugte operative Therapieoption benannt.

Eine Liposuktionsbehandlung umfasst in der Mehrzahl der Fälle mehrere Eingriffe. Im Rahmen eines Eingriffs kann die Absaugung an einer Extremität oder an mehreren Extremitäten vorgenommen werden. Sie wird empfohlen, wenn konservative Therapiemaßnahmen nicht zu einem ausreichenden Erfolg geführt haben, d. h. wenn die Beschwerden unzureichend gelindert werden oder weiterhin eine Progredienz der Erkrankung vorliegt.

Verfahren der trockenen Absaugung werden in den einschlägigen Leitlinien aufgrund des immanenten Schadenspotenzials bezüglich der Lymphgefäße in den behandelten Arealen derzeit nicht befürwortet.“

Da der Gemeinsame Bundesausschuss somit die Indikation klar beschrieben und die therapeutischen Optionen im Einzelnen dargestellt hatte, hätte eine klärende Beschlussfassung durchaus nahe gelegen.

Gleichwohl kam der Gemeinsame Bundesausschuss auf der Basis dieser Analyse zu der kuriosen Feststellung, dass von einem Nutzennachweis nur für die Anwendung der Liposuktion bei Patientinnen des besonders schwerwiegenden Stadiums III auszugehen sei.

Dies mag deshalb erstaunen, weil doch in diesen Fällen der Eingriff der Liposuktion besonders intensiv erfolgen muss, so dass man eigentlich hier die größten Bedenken im Rahmen einer Nutzenbewertung im Hinblick auf die Wirkungen und Nebenwirkungen einer Methode vermuten würde.

Der Gemeinsame Bundesausschuss legte aber nicht den Fokus auf diese klassischen Überlegungen zu Wirkungen und Risiken. Er stellte vielmehr Überlegungen dazu an, ob es denn für die betroffenen Frauen im Stadium III akzeptabel wäre, wenn die Liposuktion nicht nur im ambulanten Bereich, sondern auch im Krankenhaus ausgeschlossen würde.

Hierzu stellte er fest, dass auch eine Durchführung der Liposuktion im Krankenhaus wegen einer zwischenzeitlichen Gerichtsentscheidung nicht möglich sei, wenn man den Nutzen für die ambulante Versorgung bei den Patientinnen im Stadium III negativ bescheiden würde.

Es ging dem Ausschuss somit gar nicht um eine medizinische Detailbewertung von Wirkungen und Risiken der Liposuktion in den verschiedenen Stadien, sondern um die Frage der Zumutbarkeit:

„Unter der nunmehr gewichtigeren Bedeutung der medizinischen Notwendigkeit (insbesondere mangelnde Behandlungsalternativen, Seltenheit und
Schwere der Erkrankung im Stadium III) kommt der G-BA zu dem Ergebnis, dass derzeit die Voraussetzungen für eine Anerkennung des Nutzens gegeben sind.“

Bei seinen Bewertungen ging es somit dem Gemeinsamen Bundesausschuss nicht in erster Linie um die Frage einer evidenzbasierten Klärung von Wirkungen und Risiken der Liposuktion. Deren Sinnhaftigkeit hatte der Ausschuss ja in seinen Ausführungen der tragenden Gründe auch nicht in Abrede gestellt. Systemwidrig erörterte der Ausschuss vielmehr, ob es denn für die Frauen unzumutbar sei, unbehandelt zu bleiben.

Die Leistungsgewährung für die Frauen mit der besonders schwerwiegenden Erkrankung im Stadium III wurde bejaht, weil die Nichtgewährung unzumutbar sei.

Hinsichtlich der Stadien I und II wurde die Frage Zumutbarkeit offenbar anders entschieden. Jedenfalls ging es bei der Differenzierung nicht um Evidenzfragen.

Grundlage des Anspruchs der Versicherten ist aber der Maßstab einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung und nicht die Unzumutbarkeit der Nichtversorgung.

Erstaunlicherweise wurde die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschuss trotzdem nicht von der Rechtsaufsicht, d. h. vom Bundesministerium für Gesundheit kassiert.

3) Systemversagen hinsichtlich der Liposuktion bei Behandlung des Lipödems im Stadium I und II

Da der Nutzennachweis für die Liposuktion bei Lipödem in den Phasen 1 und 2 verneint wurde, steht diese Behandlungsoption den GKV-Versicherten seither nicht regulär zur Verfügung trotz der zitierten Feststellungen des Gemeinsamen Bundesausschuss zum Krankheitsbild und zu den bestehenden therapeutischen Optionen.

Zwar wurde ein sog. Potential der Liposuktion bejaht und eine sog. Erprobung eingeleitet. Dies bringt aber seit Jahren kein Ergebnis. Die Kostenerstattung sollte wegen dieser ausweglosen Situation daher auf der Basis eines festgestellten Systemversagens ermöglicht werden.

Auch für Frauen, die vom Lipödem in den Phasen I und II betroffen sind, ist die Situation nämlich im Sinne der Argumentation des Gemeinsamen Bundesausschuss unzumutbar.

Der Ausschuss hat sich jedoch mit seiner Festlegung auf einen Erprobungsversuch für die Phasen I und II in eine Situation gebracht, in der er keinen Ausweg mehr für eine sachgerechte Klärung der Frage der ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung mehr finden kann.

Daher ist dem Vorschlag zuzustimmen, dass das Systemversagen hier durch Beschluss des Bundestages festgestellt werden sollte, damit die Rechtsprechung dies aufgreifen kann.

4) Systemversagen hinsichtlich der Liposuktion bei Behandlung des Lipödems im Stadium III

Obwohl sich die Liposuktion zur Behandlung des Lipödems im Stadium III im Leistungskatalog der GKV befindet, ist der Zugang der Patientinnen zu der Behandlung vielfach erschwert. Hintergrund dieser Erschwernisse ist die Problematik, dass die Anerkennung einer Methode durch den Gemeinsamen Bundesausschuss allein noch keine Vergütungs- und Implementationsprobleme löst.

Für solche Konstellationen sollte in einem der anstehenden Reformgesetze eine Clearingstelle mit Regelungsbefugnis unter maßgeblicher Mitbestimmung der Patientenvertretung eingerichtet werden.

5) Weitere Maßnahmen

Rückblickend auf die Beratungen zur Liposuktion wird deutlich, dass das Verfahren der Methodenbewertung beim Gemeinsamen Bundesausschuss reformiert werden muss. Eine stärkere Mitbestimmung der Patientenvertretung ist erforderlich.

Flankierend zu den Nutzenbewertungsfragen, d. h. zur Bewertung der Evidenzlage, muss viel stärker als bisher auch die Evidenzgenerierung gestärkt werden. Leider hat sich das Instrument der Erprobung hierfür nicht als tragfähig erwiesen.

Eine gezielte Forschungsförderung, beispielsweise durch eine Fokussierung der Förderaktivitäten des Innovationsausschusses wäre wünschenswert.

Schließlich fehlt es an einer Instanz, die lange bekannte Versorgungsprobleme wie das der Behandlung des Lipödems im Sinne von Aufklärungskampagnen für die Versicherten, aber auch für die Behandler:innen bearbeitet.

Vielleicht kann eine solche Aufgabe ja dem künftigen Public Health Institut zugewiesen werden.

Düsseldorf, den 16.06.2023

Stellungnahme

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