Allerdings ist zu erkennen, dass es hinsichtlich der Frage der Einbindung von Betroffenen in die Assessments des Instituts ohne Zweifel noch methodischen Weiterentwicklungsbedarf gibt.
Zunächst einmal ist es zu begrüßen, dass im Methodenpapier im Einzelnen dargestellt wird, dass die Patienteneinbindung heute internationaler Standard von HTA-Agenturen und -organisationen ist.
Auf Seite 152 des Methodenpapiers wird dieser Standard zutreffend damit begründet, „dass mit der Einbeziehung von Betroffenen und/oder der Öffentlichkeit eine höhere Qualität der Ergebnisse, eine höhere Legitimation, Transparenz und Glaubwürdigkeit von Bewertungsprozessen sowie mehr Akzeptanz, Verbreitung und Umsetzung der Ergebnisse erreicht werden sollen.“
Leider versäumt es das Methodenpapier jedoch, diese allgemeine Begründung methodisch näher zu analysieren.
a) Aspekte wie die der Legitimation, der Glaubwürdigkeit, der Akzeptanz, Verbreitung und Umsetzung der Ergebnisse reflektieren offenbar die Rezeption von HTA-Gutachten in der Gesellschaft.
Es stellt sich daher die Frage, ob diese Aspekte tatsächlich der Methodik des HTA zuzuordnen sind. Geht es hier tatsächlich um Aspekte, die die wissenschaftlichen Werkzeuge des Instituts zur Umsetzung von HTA betreffen, wie dies in der Präambel des Methodenpapiers angesprochen wird? Die öffentliche Wahrnehmung von HTA-Gutachten ist ja nicht Teil des HTA an sich.
Geht das IQWiG allerdings davon aus, dass öffentliche Akzeptanz ein relevantes Gütekriterium seiner Arbeit sein soll, dann sollte man sich mit diesem Aspekt auch fundiert (sozial-) wissenschaftlich auseinander setzen.
Man könnte bspw. wissenschaftlich hinterfragen, ob Effekte wie Akzeptanz und Glaubwürdigkeit tatsächlich empirisch feststellbar sind. Hierzu äußert sich das Methodenpapier jedoch nicht. Ob es soziologische Studien zur Sicht der Gesellschaft auf HTA-Institutionen gibt, wird ebenfalls nicht thematisiert.
b) Vergleichsweise einfach scheint es zu sein, die Begründung der „Transparenz“ für eine Einbindung von Betroffenen zu diskutieren.
So liegt es ja auf der Hand, dass Beteiligte im Nachhinein berichten können, was während des HTA passiert ist.
Nun könnte man sagen, dass ein schriftlicher HTA-Report, wenn er lege artis angefertigt wurde, ohnehin für Transparenz sorgen wird. Warum sollte in der Einbindung von Betroffenen dann noch ein Mehrwert zu sehen sein, wo doch die Betroffenen als Laien in der Regel gar nicht alle methodischen Schritte des Vorgehens im HTA erkennen können?
Dennoch scheint ja durch die Mitwirkung am Prozess ein persönliches Erleben möglich zu werden, das Transparenz generiert.
Außerdem sollen Betroffene ja „mitwirken“, d.h. etwas zum HTA-Ergebnis beitragen. Dieser Punkt soll sogleich noch näher beleuchtet werden.
c) Zunächst soll die als aller erstes genannte Begründung für die Einbindung Betroffener in den Blick genommen werden:
Die Einbindung ermögliche eine „bessere Qualität der Ergebnisse des Assessments“.
Leider beschäftigt sich das Methodenpapier im weiteren Verlauf nicht mit der methodischen Frage warum dies so ist, sondern lediglich mit den „Methoden der Einbindung von Betroffenen“.
Warum also verbessert die Einbindung der Betroffenen unter Umständen die Qualität der Ergebnisse des Assessments?
Um dieser Frage nach zu gehen, soll im Folgenden ganz gezielt einmal die Perspektive des Assessors[1] eingenommen werden, der ein HTA durchführen möchte. Immerhin steht ja die Frage im Raum, warum er noch jemanden anderen bei seiner Arbeit einbinden sollte, um ein qualitativ hochwertiges Ergebnis zu erzielen.
Grundsätzlich sieht sich der Assessor damit konfrontiert, eine evidenzbasierte Aussage zu einer Gesundheitstechnologie am Ende des Assessments treffen zu müssen. Das ist das Ziel des Assessments.
Wie im Methodenpapier zutreffend dargestellt wird, sind auf dem Weg zu diesem Ziel verschiedene Prozeduren einzuhalten, und vor allem ist der Evidenzkörper, idealerweise bestehend aus wissenschaftlichen Studien, zu analysieren.
Beschäftigt sich der Assessor bei der Lektüre einer Studie mit Endpunkten, therapeutischen Optionen und weiteren Sachverhalten, dann ruft diese Lektüre ganz automatisch Wissensbestände auf. (Zum Folgenden wird auf die allgemeinen Erkenntnisse der Kognitionspsychologie zur Wissensverarbeitung verwiesen.)
Im Kopf des Assessors entsteht ein „Bild“ von der Erkrankung, von der Intervention, von Beeinträchtigungen durch Nebenwirkungen etc.
Idealerweise hat sich der Assessor beispielsweise durch ein Medizinstudium fachlich mit all diesen Themen bereits befasst. Zur Betroffenenperspektive kann in der Regel vom Assessor trotzdem nur eine sogenannte Alltagstheorie gebildet werden.
Alltagswissen kommt durch die unterschiedlichsten Informationsquellen zustande, wird zufällig im Alltag überprüft und führt dann zur Alltagstheorie. Man hat sich beispielsweise selbst schon einmal schummrig gefühlt, liest von bestimmten Auswirkungen einer Hypoglykämie und kann die hieraus hervorgehende Alltagstheorie sehr gut bei der Lektüre einer Studie zu thematischen Interventionen bei Diabetes Typ 2 verwenden. Wir halten daher fest: Bei der Wissensverarbeitung im HTA bringt auch der Assessor unbewusst Wissensbestände seines Alltagserlebens ein, weil er sich eine Vorstellung von Krankheitsbildern, von Interventionen, Nebenwirkungen etc. macht.
Dies führt zu einer wichtigen Erkenntnis:
HTA ist auch ohne Einbindung Betroffener möglich – dank der Alltagstheorien oder dank des mit Fachwissen angereicherten Wissens des Assessors.
Das Gesagte führt aber zu einer weiteren wichtigen Erkenntnis: Das Alltagswissen des Assessors kann durch die Interaktion mit Betroffenen überprüft und dann entweder bestätigt, vertieft oder widerlegt werden.
Die Interaktion kann dann in der Tat „die Qualität der Ergebnisse verbessern“.
Sie schafft auch Transparenz. Die Mitwirkung des Betroffenen „bewirkt“ dann tatsächlich eine Stabilisierung des HTA, ist aber andererseits kein rein legitimatorisches „Nice-to-have“.
Über Schulungen der Assessoren, aber auch der Betroffenen, können diese Effekte des Gegenchecks von Alltagstheorien noch optimiert werden.
Nicht ganz den maßgeblichen Punkt trifft hingegen der Hinweis unter 8.1.3, dass eine gute „Passung der Betroffenen“ gute Mitwirkungsergebnisse zur Folge habe.
Hinzu kommt natürlich noch, dass der Betroffene Aussagen zu Präferenzen, zur Patientenrelevanz bestimmter Endpunkte, zu konkreten Patient Pathways, zu Unterschieden der Krankheitsbetroffenheit bestimmter Subpopulationen treffen kann, was für den Assessor allein nicht ohne weiteres möglich ist.
Dies wird zwar unter 8.1.3. durchaus erwähnt, allerdings nur verbunden mit dem Hinweis, dass die Betroffenen aus der Selbsthilfe oft ein gutes Überblickswissen hätten.
In einem HTA-Methodenpapier geht es aber nicht nur darum, die Wissensbestände bestimmter Personengruppen zu würdigen, sondern zu reflektieren, wann und inwieweit das Wissen anderer ganz konkret den HTA-Prozess optimiert.
Es wäre daher höchst wünschenswert, dass sich das Methodenpapier des IQWiG künftig etwas genauer mit der Frage beschäftigen würde, welche Entscheidungsfindungs- und Wissensverarbeitungsprozesse während eines HTA ablaufen.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Es soll an dieser Stelle gerade nicht einem arbiträren Vorgehen im HTA das Wort geredet werden, „einfach mal auf die Patienten zu hören“.
Es geht darum, Vorgänge methodisch künftig noch besser abzusichern. Hierzu gehört die exakte Analyse, was bei der Hinzuziehung Betroffener im HTA passiert.
Arbiträr ist es hingegen, Betroffene nach Lust und Laune auf der Basis einer Vielzahl ungeprüfter Gründe zum HTA hinzuzuziehen.
Das recht undifferenzierte Grundverständnis vom Sinn und Zweck der Betroffeneneinbindung in HTAs führt leider auch dazu, dass auch die Begriffsbildung zur Betroffeneneinbindung im Methodenpapier unklar bleibt.
Immer wieder wird im Methodenpapier der Begriff „Patientenvertretungen“ in verschiedenen Kontexten genannt, ohne dass der Bezug klar ist.
Geht es um betroffene Einzelpersonen, um Personen, die über den Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen berichten können, um Angehörige, um Patienten mit HTA-Methodenkenntnis?
Wo reicht es aus, eine einzelne Person einzubinden und wo ist die Einbindung verschiedener Personen erforderlich? Werden die sozialwissenschaftlichen Standards zur Bildung von Fokusgruppen herangezogen oder ist deren Nutzung nicht adäquat?
All diese Fragen lassen sich erst dann vernünftig klären, wenn methodische Klarheit zu Sinn und Zweck der Betroffeneneinbindung in HTA besteht.
Auch die Zuordnung der Betroffeneneinbindung zu den Verfahren zur Erstellung bestimmter Produkte des Instituts ist im vorliegenden Methodenpapier nicht immer stringent: Unklar ist teilweise, welche Beteiligungsprozesse aktuell schon umgesetzt bzw. welche nur zukünftig geplant sind.
Theoretisch wäre alles Neue unter 8.4.2 „Erprobung neuer Ansätze…“ zu verorten. An vielen Stellen ist eine Klärung nötig, auch in Bezug darauf, welche Einbindungsformen wie tatsächlich bereits umgesetzt werden bzw wurden(Bsp. Patientenwege, etc.).
In einem allgemeinen Methodenpapier müsste für jedes Produkt des Instituts im Einzelnen durchdekliniert werden, ob und wenn ja wie die Zielkriterien der Akzeptanz, Transparenz und der Qualitätsverbesserung anhand der Betroffeneneinbindung erreicht werden sollen.
Für jedes Produkt von der Arzneimittelbewertung über die Erstellung von Gesundheitsinformationen bis hin zum sog. Themencheck müssten die Arbeitsprozesse des Instituts so dargestellt werden, dass Sinn und Zweck der Betroffeneneinbindung methodisch klar herausgestellt wird.
Unklar ist folglich auch, wie die Effekte der Mitwirkung in den Produkten des Instituts dokumentiert werden sollen. Denkbar wäre es, hierzu jeweils einen eigenen Kapitel-Unterabschnitt vorzusehen.
Hilfreich wäre es, konkret zu fassen, wie und mit welchem Hintergrund eine Berücksichtigung erfolgt. Bislang geschieht dies entweder gar nicht oder nur sehr unkonkret:
„Das Institut berücksichtigt bei seiner Bewertung die in diesem Fragebogen getroffenen Angaben z. B. zu relevanten Endpunkten und zu wichtigen Subgruppen.“
Fehlt es an einem klaren Verständnis vom Sinn und Zweck der Betroffeneneinbindung, dass führt dies auch dazu, dass es kein klares Verständnis von Berücksichtigung des jeweiligen Inputs geben kann:
Ergebnisse (mündlicher/ schriftlicher Befragung von Betroffenen und/ oder Patientenorganisationen) müssen bei Entscheidungen bewusst einbezogen und in die Überlegungen integriert werden. Es geht darum, relevante Aspekte ernst zu nehmen, abzuwägen und ihnen einen angemessenen Stellenwert einzuräumen sowie Alltagstheorien der Institutsmitarbeitenden zur Situation der Patienten kritisch zu hinterfragen.
Notwendig sind Ausführungen dazu, wie die genannte „Berücksichtigung“ / Auswertung methodisch stattfindet. Transparenz, im Detail spezifischen Mechanismen oder Vorgehensweisen, die klarstellen, wie/ in welcher Form getroffene Angaben berücksichtigt werden.
Hinsichtlich vieler Arbeitsprozesse des Instituts fehlt es noch an klaren Festlegungen zu den Rahmenbedingungen der Betroffenenbeteiligung. Auch insofern ist das Methodenpapier ergänzungsbedürftig.
Für jeden Arbeitsprozess sollten folgende Rahmenbedingungen klar definiert werden:
- Übermittlung von Vorinformationen: Wie viel Wissen erhalten einzubeziehende Personen, worum es geht?
- Klar definierte Kriterien: Gibt es im Vorfeld klar formulierte Kriterien dafür, wie die Antworten berücksichtigt werden? Wird den Beteiligten mitgeteilt, welche Aspekte bei den Antworten besonders relevant sind?
- Dokumentation der Antworten: Werden alle abgegebenen Antworten (insbesondere bei den Gesprächen) sorgfältig dokumentiert und nachvollziehbar festgehalten, um sie in den Entscheidungsprozess einzubinden?
- Nachvollziehbarkeit der Gewichtung/Stellenwert: Welchen Stellenwert haben die Antworten im Entscheidungsprozess, und welche Gründe werden für die jeweilige Gewichtung herangezogen? Wird eine Balance zwischen Antworten aus verschiedenen Perspektiven hergestellt?
- Einfluss auf die Entscheidung: Kann klar aufgezeigt werden, welche konkreten Auswirkungen die geäußerten Antworten auf die endgültige Entscheidung haben? Falls Antworten nicht berücksichtigt werden, wird dies transparent begründet.
Insgesamt wäre es sehr wünschenswert, wenn der notwendige Weiterentwicklungsprozess zu den Methoden der Betroffeneneinbindung gemeinsam mit den Patientenorganisationen nach § 140 f SGB V nun konsequent angegangen werden könnte.
Dies böte die Chance, dass das IQWiG in Zukunft auch im internationalen Diskurs eine fachliche Führungsrolle bei der Betroffeneneinbindung in HTA einnehmen könnte.
Düsseldorf, den 23.04.2025
[1] Aus darstellerischen Gründen wird im Folgenden nur die typisierende Formulierung „Assessor“ verwendet. Assessorinnen sind selbstverständlich ebenfalls gemeint.