Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes

Mit Beschluss vom 16.12.2021 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass der Gesetzgeber Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz verletzt hat, weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird.

Als Dachverband von 123 Bundesverbänden der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen und deren Angehörigen sowie von 12 Landesarbeitsgemeinschaften begrüßt es die BAG SELBSTHILFE, dass mit der geplanten Änderung des Infektionsschutzgesetzes nun eine rechtsverbindliche Regelung für Zuteilungsentscheidungen bei pandemiebedingt nicht ausreichender intensivmedizinischer Behandlungskapazität geschaffen wird.

Entscheidend ist, dass einerseits Verfahrenserfordernisse für Zuteilungsentscheidungen im Falle pandemiebedingter, nicht ausreichender und überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten festgelegt werden und dass andererseits auch Kriterien materieller Natur für die Allokationsentscheidung festlegt werden.

Nur durch die Normierung beider Aspekte kann Rechtssicherheit geschaffen und einer Diskriminierung entgegengewirkt werden. Gleichwohl ist der vorliegende Entwurf aus Sicht der BAG SELBSTHILFE noch in mancherlei Hinsicht verbesserungsbedürftig, da weitergehende Maßnahmen erforderlich sind, um einen wirksamen Diskriminierungsschutz zu gewährleisten.

Im Einzelnen ist zu dem vorliegenden Gesetzentwurf folgendes auszuführen:
 

1. Abdeckung notwendiger Aus- und Fortbildungsbedarfe

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 16. Dezember 2021 (1 BvR 1541/20) festgestellt, dass sich die Risiken einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderung im Fall nicht ausreichender intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten unter anderem aufgrund von mangelndem Fachwissen, einer unzureichenden Sensibilisierung für behinderungsspezifische Besonderheiten, aber auch aufgrund subjektiver Momente ergeben können.

Um einen umfassenden Diskriminierungsschutz zu gewährleisten und die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Schutzpflicht zu erfüllen, bedarf es aus Sicht der BAG SELBSTHILFE konkreter Regelungen zur Aus- und Fortbildung von Behandler:innen, die über die im aktuellen Entwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vorgesehenen hinaus gehen.

Der Gesetzesentwurf sieht keine spezifischen Vorgaben zur Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege vor, insbesondere keine des intensivmedizinischen Personals. Allein durch die Vorgaben, die der Gesetzesentwurf für den Fall einer Zuteilungsentscheidung macht, kann dem defizitorientierten medizinischen Blick auf Behinderung nicht entgegengewirkt werden.

Es gilt, das menschenrechtliche Verständnis von Behinderung gerade auch im Gesundheitswesen zu verankern. Hierfür sind konkrete und verbindliche Vorgaben zur ärztlichen und pflegerischen Aus- und Fortbildung im Bereich der behinderungsspezifischen Besonderheiten unbedingt notwendig. Die Vermittlung von behinderungsspezifischen Fachkenntnissen zu Krankheiten und Risiken, der Abbau stereotypisierender Sichtweisen, eine barrierefreie Kommunikation, die Sensibilisierung für Diskriminierungsrisiken und der Abbau von Unsicherheiten und Vorurteilen im Umgang mit Menschen mit Behinderung – diese Themen sollten grundsätzlich im Fokus der Aus- und Weiterbildung stehen und sich auf alle im Gesundheitssystem Tätigen erstrecken. Im Kontext des vorliegenden Gesetzesentwurfes sollten sich diese Vorgaben auf die Akteure der Notfall- und Intensivmedizin konzentrieren.

In einem zweiten Schritt ist es unerlässlich, entsprechende Vorgaben auch systematisch verpflichtend im gesamten Gesundheitssystem zu implementieren.
 

2. Regelungen zu den materiellen Kriterien der Zuteilungsentscheidung

§ 5c Abs. 2 des vorliegenden Gesetzentwurfs regelt die materiellen Maßstäbe der Zuteilungsentscheidung.

Danach darf die Entscheidung über die Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten nur unter Berücksichtigung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patient:innen getroffen werden. Komorbiditäten dürfen nur berücksichtigt werden, soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination, die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern. Keine geeigneten Kriterien zur Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit sollen insbesondere eine Behinderung, das Alter, die verbleibende mittel- oder langfristige Lebenserwartung, die Gebrechlichkeit und die Lebensqualität sein.

§ 5c Abs. 2 des Gesetzentwurfs regelt somit positive (klinische Erfolgsaussicht) und negative (Behinderung, Alter, verbleibende mittel- oder langfristige Lebenserwartung, Gebrechlichkeit und die Lebensqualität) materielle Kriterien, die bei der Zuteilungsentscheidung zu berücksichtigen sind.

Die im Gesetzesentwurf vorgesehenen materiellen Kriterien sind aus Sicht der BAG SELBSTHILFE jedoch nicht deutlich genug formuliert, um diskriminierungsfreie Zuteilungsentscheidungen zu gewährleisten.

Es besteht nämlich nach wie vor die Gefahr, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit nicht eindeutig nur auf die aktuelle Krankheit bezogen wird, sondern dass eine Behinderung pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden wird. Es bleibt insbesondere fraglich, ob die im Gesetzentwurf gewählte Formulierung „keine geeigneten Kriterien“ ausreichend ist, um eine Diskriminierung wirksam zu verhindern. Hier sind aus Sicht der BAG SELBSTHILFE klarere Formulierungen erforderlich, um das Thema der Überlebenswahrscheinlichkeit präzise zu umreißen.

Der Gesetzesbegründung lässt sich ferner entnehmen, dass eine Zuteilungsentscheidung zwischen Patient:innen voraussetzt, dass diese eine intensivmedizinische Behandlung „dringend“ benötigen. Erst wenn die Dringlichkeit der intensivmedizinischen Behandlungsbedürftigkeit ärztlicherseits festgestellt worden ist, soll die Zuteilungsentscheidung überhaupt ergehen können. Warum dieses Kriterium der Zuteilungsentscheidung nicht in die gesetzliche Regelung selbst aufgenommen wurde, erschließt sich der BAG SELBSTHILFE nicht. Die medizinische Dringlichkeit der intensivmedizinischen Behandlung muss als Kriterium der Zuteilungsentscheidung berücksichtigt werden. Hierfür ist es unerlässlich, dies in die gesetzliche Regelung des geplanten § 5c IfSG aufzunehmen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Zuteilungsentscheidung zuungunsten von Personen mit zwar dringendem intensivmedizinischen Behandlungsbedarf, aber mittlerer Überlebenswahrscheinlichkeit ausfällt, weil gleichzeitig eine Person mit hoher Überlebenswahrscheinlichkeit und weniger dringendem Behandlungsbedarf in die konkrete Zuteilungsentscheidung einbezogen würde. Die Person mit hoher Überlebenswahrscheinlichkeit würde, ohne Einbeziehung der Dringlichkeit als Kriterium, auch dann sofort behandelt werden, wenn ein Zuwarten die Überlebenswahrscheinlichkeit zwar verringert, aber nicht ausschließt. Die Person mit dringendem Behandlungsbedarf würde ohne sofortige Behandlung versterben.

Auch wenn sich die Beachtung der Dringlichkeit bereits aus § 34 StGB ergeben dürfte, hält die BAG SELBSTHILFE es für dringend erforderlich, eine klarstellende Regelung im geplanten § 5c IfSG aufzunehmen – analog zu § 12 Abs. 3 Transplantationsgesetz, der für die Organzuteilung zum einen auf die Erfolgsaussicht als auch auf die Dringlichkeit abstellt. Gerade Menschen mit Behinderung werden ohne Beachtung der Dringlichkeit der intensivmedizinischen Behandlung das Nachsehen gegenüber Menschen ohne Behinderung mit hoher Überlebenswahrscheinlichkeit haben.

§ 5c Abs. 2 S. 2 des Gesetzentwurfs regelt die Berücksichtigung von Komorbiditäten bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit. Komorbiditäten dürfen dann bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit berücksichtigt werden, soweit sie in ihrer Schwere und Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern. Unklar bleibt an dieser Stelle, wie eine Abgrenzung der Komorbiditäten (die berücksichtigt werden können, wenn sie die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit beeinflussen) und der Behinderung (die nicht berücksichtigt werden darf) gelingen soll. Auch die Begründung des Gesetzesentwurfs verhält sich hierzu nicht. Diese Unklarheit wird im Entscheidungsprozess des intensivmedizinischen Personals, das in dieser Situation ohnehin unter hohem Druck steht, Unsicherheiten hervorrufen. Es besteht die Gefahr, dass Behinderungen an dieser Stelle pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht werden und die entscheidenden Intensivmediziner:innen generell von einer schlechteren Genesungschance ausgehen.

Die Regelung in § 5c Abs. 2 des Gesetzentwurfs verhält sich nicht dazu, ob die Rettung möglichst vieler Menschenleben ein zulässiges Kriterium im Rahmen der Zuteilungsentscheidung ist (Maximierungsverbot). Angesichts der Schwere der Konfliktsituation und ihrer Folgen kann nicht ausgeschlossen werden, dass im Entscheidungsprozess – möglicherweise auch unbewusst – das Kriterium der Rettung möglichst vieler Menschenleben herangezogen wird. Dies gilt es unbedingt zu verhindern. Andernfalls würde die Entscheidung überproportional oft zu Lasten von Menschen mit Beeinträchtigung gehen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit auf eine intensivere und längere intensivmedizinische Behandlung angewiesen sind. Ein Maximierungsgebot als Kriterium der Zuteilungsentscheidung führt zu einer Abwägung von Leben gegen Leben. Jede qualitative und quantitative Abwägung von Leben gegen Leben verstößt gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes.
 

3. Notwendigkeit von Konzepten zur Verhinderung von Triage-Situationen

Jenseits der konkreten Ausgestaltung der materiellen Regelungen zu den Zuteilungsentscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht aber auch – sowohl in der Triage- Entscheidung aber noch klarer in der sog. Entscheidung zur sog. einrichtungsbezogenen Impfpflicht – festgelegt, dass es eine Schutzpflicht des Staates gegenüber vulnerablen Personengruppen gibt, die den Staat auch zu konkreten Schutzmaßnahmen verpflichten kann.

Insoweit begrüßt die BAG SELBSTHILFE sehr, dass diese Schutzpflicht in der Gesetzbegründung einleitend anerkannt wird.

Allerdings fehlt es aus Sicht der BAG SELBSTHILFE noch an konkreten Umsetzungsschritten zur Verhinderung von Triagesituationen.

Zwar ist in der Gesetzesbegründung zu § 5c dargestellt, welche Voraussetzungen zur Feststellung des Merkmals der „nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten“ vorliegen müssen und wie diese organisatorisch vermieden werden können (z.B. Kleeblattverlegungen).

Es wird den Krankenhäusern aber nicht unmittelbar auferlegt, solche Konzepte jeweils zu entwickeln und diese Anstrengungen im Triage-Fall jeweils auch nachzuweisen. Lediglich Verfahrensregelungen für die konkrete Ausgestaltung der Triage-Situation nach § 5c Abs. 4 und 5 InfSchG müssen Krankenhäuser nachweisen, nicht die deutlich früher ansetzenden Maßnahmen zur Verhinderung einer solchen Situation.

Hier muss der vorliegende Gesetzentwurf dringend nachgebessert werden.

Auch die deutlich früher ansetzenden Maßnahmen der gesetzlichen Festlegung von Maskenpflichten in Innenräumen, Hygienekonzepten und Testpflichten müssen nach Auffassung der BAG SELBSTHILFE Teil der Verpflichtung des Staates zum Schutz von vulnerablen Personengruppen sein.

Vor diesem Hintergrund hält die BAG SELBSTHILFE es für wichtig, dass im Gesetz selbst klargestellt wird, dass die Grundrechte der vulnerablen Personen auch die Einleitung von Maßnahmen gebieten können, die wiederum dann - in eher überschaubarem Ausmaß - in die Grundrechte anderer eingreifen. Denn in der politischen und medialen Diskussion stehen vor allem die Grundrechtseinschränkungen der Menschen durch Maskentragen, Abstandspflichten etc. im Fokus, wohingegen das Bundesverfassungsgericht in beiden erwähnten Entscheidungen die Güterabwägung zugunsten der Grundrechte von vulnerablen Personengruppen entschieden hatte- und zwar bei der einrichtungsbezogenem Impfpflicht in Bezug auf eine Pflicht zur Impfung, die sicherlich einen weitergehenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit als die Verpflichtung zum Maskentragen beinhaltet. Auch der Sachverständigenausschuss zur Evaluation hat diesen falschen Schwerpunkt aus Sicht der BAGS SELBSTHILFE gesetzt: Auf Seite 72 werden in Punkt 6.2 Maßnahmen zum Schutz vulnerabler Gruppen angekündigt, unter dem angekündigten Punkt auf Seite 103 (1) findet sich dann der etwas wolkige Titel Maßnahmen zur Abfederung unerwünschter Wirkungen: Individuen, Gesellschaft und Wirtschaft“; in dem Kapitel werden zunächst die möglichen negativen Wirkungen der Schulschließungen auf Jugendliche aufarbeitet, um dann bzgl. sozial benachteiligter Gruppen zu fordern, dass diese nicht aus dem Blick geraten sollten. Diskussionen um Schutzmaßnahmen für Menschen mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen und Pflegebedarf kommen praktisch nicht vor (mit Ausnahme der Bereitstellung von Masken für sozial Schwache), obwohl sie nach wie vor das höchste Risiko haben, an einer Covid-Erkrankung zu sterben – auch mit Impfung. Dies gilt vor allem für Menschen mit Immunsuppression, Immunschwäche oder Krebserkrankungen, bei denen die Impfung kaum oder in geringerem Umfang wirkt.

Aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE ist dies der falsche Ansatz. Neben einer allgemeinen Strategie zur Verhinderung der Ausbreitung der Pandemie, etwa durch eine allgemeine Verpflichtung zum Tragen von Masken in Innenräumen, müssen darüber hinaus auch noch spezifische Schutzmaßnahmen für besonders vulnerable Personengruppen bestehen, also die Sicherstellung kostenfreier (PCR- und Antigen) Tests sowohl in Arztpraxen als auch in Testzentren für vulnerable symptomatische und asymptomatische Personengruppen und der schnelle Zugang zu Antikörpertherapien / Paxlovid / Molnupiravir. Insgesamt stellen damit die Bereitstellung einer hinreichenden Teststrategie, das Vorsehen von allgemeinen Maskenpflichten und die Bereitstellung von zeitnah erforderlichen Therapien notwendige Vorkehrungen für die Verhinderung von Triagesituationen dar, die das Bundesverfassungsgericht nach Auffassung der BAG SELBSTHILFE zwar nicht spezifisch, aber als Teil einer Gesamtstrategie gefordert hat.
 

4. Verfahrensregelungen

Die Zuteilungsentscheidung soll grundsätzlich von zwei mehrjährig intensivmedizinisch erfahrenen und praktizierenden Fachärzt:innen getroffen werden (§ 5c Abs. 3 des Gesetzentwurfs). Sind Menschen mit Behinderung oder Vorerkrankungen von der Zuteilungsentscheidung betroffen, muss die Einschätzung einer weiteren Person mit entsprechender Fachexpertise für die Behinderung oder die Vorerkrankung bei der Zuteilungsentscheidung berücksichtigt werden.

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt es, dass die Zuteilungsentscheidung von mindestens zwei qualifizierten Fachärzt:innen, von denen eine(r) nicht an der Behandlung beteiligt ist, getroffen wird und die Begutachtung der betroffenen Patient:innen unabhängig voneinander erfolgen muss. Eine solche Regelung ist eine Möglichkeit, einer unbewussten Stereotypisierung von körperlich oder geistig beeinträchtigten Menschen entgegenzuwirken. Die Möglichkeit der telemedizinischen Konsultation ist aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ausreichend und trägt dazu bei, dass es in dieser zeitkritischen Entscheidungssituation nicht zu Personalengpässen kommt. Ausdrücklich begrüßt wird vor allem die Hinzuziehung einer Person mit entsprechender Fachexpertise für die Behinderung oder die Vorerkrankung, soweit Menschen mit Behinderung oder Vorerkrankung von der Zuteilungsentscheidung betroffen sind.

Sehr kritisch sieht die BAG SELBSTHILFE jedoch die Möglichkeit im Entwurf, von der Einbeziehung von Menschen mit Fachexpertise abzusehen, wenn die Entscheidung dringlich ist. Denn es ist nach der Gesetzesbegründung sogar Voraussetzung für eine Zuteilungsentscheidung, dass die Entscheidung dringlich ist. So heißt es in der Begründung:

„Auch setzt eine Zuteilungsentscheidung zwischen Patientinnen und Patienten voraus, dass diese eine intensivmedizinische Behandlung dringend benötigen. Erst wenn die Dringlichkeit der intensivmedizinischen Behandlungsbedürftigkeit ärztlicherseits festgestellt worden ist, kann eine Zuteilungsentscheidung unter Einbeziehung dieser Patientinnen und Patienten überhaupt ergehen.“

Wenn aber die Dringlichkeit selbst schon Voraussetzung für die Triage- Situation ist, so besteht die große Gefahr, dass die Maßgabe der Einbeziehung von Menschen mit Fachexpertise für die Behinderung oder Vorerkrankung faktisch leerläuft und in der Praxis nicht stattfindet. Daher ist diese Regelung aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE zu streichen.

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE fehlt im Gesetzentwurf auch die Maßgabe, dass während des Verfahrens zur Herbeiführung der Zuteilungsentscheidung regelmäßige Überprüfungen in Bezug auf Änderungen der Prognose, der Verfügbarkeit weiterer und neuer Behandlungsmöglichkeiten und der Verfügbarkeit von Ressourcen stattzufinden haben.

Es muss insbesondere klargestellt werden, dass Verlegungen nicht aus Kostengründen im Abwägungsprozess ausgeschlossen werden dürfen.
 

5. Dokumentationspflichten (§ 5c Abs. 4 und 5 InfSchG)

Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Dokumentationspflichten werden von der BAG SELBSTHILFE begrüßt. Sie können dazu beitragen, dass die beteiligten Ärzte sorgsamer mit der Situation umgehen und auf bewusste oder unbewusste Stereotypisierungen verzichten, da diese zur Dokumentation nicht geeignet sind. Allerdings sollte die Dokumentationspflicht auch die Darlegung aller Maßnahmen umfassen, die der Verhinderung der Triagesituation dienten und die Darlegung der Gründe, warum es gleichwohl zu einer Zuteilungssituation gekommen ist.
 

6. Verfahrensregelungen gegen die „vorbeugende“ Triage in Pflegeheimen

Zu Recht hat ein Brief des Landratsamtes Tuttlingen (2) an Einrichtungen der Langzeitpflege und der Behindertenhilfe Wellen geschlagen, da hier – mit langen Ausführungen zu geringen Erfolgsaussichten invasiver Beatmung bei Älteren – dazu aufgefordert wurde, angesichts dessen sich über die Erstellung Patientenverfügung Gedanken zu machen und sich Krankenhausaufenthalte für die Bewohner sorgsam zu überlegen. Von vielen Einrichtungen und Betroffenen wurde dies zu Recht als Ausübung von Diskriminierung gewertet; vor diesem Hintergrund fordert die BAG SELBSTHILFE eine klarstellende Regelung, wonach ein solches Ausüben von Druck, eine Patientenverfügung zu erstellen, seitens der Leistungserbringer nicht zulässig ist und strafbewehrt sein sollte.
 

7. Erfordernis einer barrierefreien Aufklärung und barrierefreie Informationsmaterialien

Die BAG SELBSTHILFE hält es für dringend erforderlich, dass die Aufklärung über die intensivmedizinische Behandlung barrierefrei erfolgt, die Krankenhäuser dafür die entsprechenden Möglichkeiten einer barrierefreien Kommunikation vorhalten (z.B. eine Liste von Gebärdendolmetschern) und barrierefreie Informationsmaterialien bereitstellen. Denn die medizinischen Entscheidungen – auch im Zusammenhang mit einer Triage-Situation – müssen mit den Betroffenen getroffen werden und nicht über ihren Kopf hinweg mit Angehörigen. Letzteres findet in der Praxis leider nach wie vor noch zu häufig statt.
 

8. Ausschluss einer Ex-Post-Triage

Die Klarstellung, dass bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten von der Zuteilungsentscheidung ausgenommen sind, wird von der BAG SELBSTHILFE ausdrücklich begrüßt.

Düsseldorf/ Berlin, 22.07.2022


(1) Im Rahmen der vorherigen Kapitel wurde vom Sachverständigenausschuss zwar die Effektivität der einzelnen Maßnahmen diskutiert, allerdings folgten daraus nur wenig Empfehlungen zum Schutz vulnerabler Personengruppen.

(2) www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/umstrittener-rundbrief-an-pflege-und-behinderten-heime-in-tuttlingen-100.html

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