Stellungnahme zum Referentenentwurf einer Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) (Stand: 18.12.2024)

Für die Möglichkeit zur Stellungnahme zu dem o.g. Verordnungsentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales möchte die BAG SELBSTHILFE herzlich danken. Als Dachverband von 119 Bundesorganisationen der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen und von 13 Landesarbeitsgemeinschaften nehmen wir zu dem Entwurf wie folgt Stellung:

1.Systematik des Entwurfes: 

Systematisch umfasst vorliegender Verordnungsentwurf (6.VO zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung) Änderungen der Anlage zu § 2 VersMedV, konkret zu den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen. Inhaltlich ist Teil A der allgemeinen Grundsätze betroffen, konkret die Vorbemerkung sowie die Nrn. 1-3. Ferner wird in Teil B die Nr. 1 („Heilungsbewährung“) gestrichen, weil diese mit vorliegendem Entwurf in Teil A unter 2. „Heilungsbewährung“ aufgeführt wird. Die Nrn. 4-7 in Teil A bleiben unverändert. Weitere Änderungen in Teil B werden nicht vorgenommen, diese bleiben der zukünftigen Bearbeitung, welche zunächst in themenspezifischen Arbeitsgruppen erfolgen wird, sowie einer weiteren Änderungsverordnung vorbehalten.

2.Ergänzungsbedarfe und Kritikpunkte:

Die BAG SELBSTHILFE und ihre Mitgliedsverbände begrüßen grundsätzlich, dass mit Empfehlung des neu ausgerichteten Sachverständigenbeirates Versorgungmedizinische Begutachtung, welcher sich am 20.12.2023 konstituierte, die Gemeinsamen Grundsätze des Teils A überarbeitet wurden, insbesondere mit dem Ziel, Begutachtungen durch die Länder nach einem bundesweit einheitlichen Maßstab durchzuführen. 

Allerdings gibt es auch grundsätzliche Bedenken im Hinblick auf die möglichen - aktuell noch nicht abzuschätzenden - Auswirkungen der Änderungen in Teil A der Anlage zu § 2 auf die in Teil B Nr. 2 ff. der Anlage zu § 2 aufgeführten detaillierten Erkrankungen bzw. Funktionsbeeinträchtigungen.

So steht nach Ansicht der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft - Bundesverband e.V. (DMSG-Bundesverband) sehr zu befürchten, dass es zu einer Verschlechterung kommen kann, welche insbesondere davon abhängt, wie im Rahmen der Begutachtung die neuen Formulierungen verstanden und gewertet werden. Die gewählten Formulierungen führen nach dessen Ansicht nicht zu mehr Transparenz, sondern vielmehr zu einer Verunsicherung sowie auch Verschlechterung für die Betroffenen. Es sei damit zu rechnen, dass aufgrund der in dem Entwurf eingefügten Neufassungen der Formulierungen in den Allgemeinen Grundsätzen in Teil A die Berücksichtigung konkreter Auswirkungen zukünftig pauschal mit der Begründung abgelehnt werden wird, dies ergebe sich bereits aus dem Allgemeinen Teil. Daher kann die Frage aufgeworfen werden, ob die Verordnung nach dem Charakter eines verallgemeinernden Sachverständigengutachtens haben kann.

Daher hält die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband e.V. es für unabdingbar, dass etwaige Klarstellungen bereits im Text erfolgen bzw. andere Formulierungen gewählt werden. 

Dies auch vor dem Hintergrund, dass statt der Schaffung von Transparenz vielmehr mit zahlreichen Widersprüchen und Klageverfahren zu rechnen sei im Rahmen von Neufeststellungen sowie auch im Rahmen von Überprüfungsverfahren. 

Zudem bleibt nach Ansicht des DMSG-Bundesverbandes die grundsätzliche Kritik bestehen, dass die Darlegungslast insgesamt zu sehr zulasten der Menschen mit Behinderungen besteht, die Befunde sowie ärztliche Nachweise über Art und Ausmaß der Erkrankung, der Begleiterscheinungen und deren Ausmaß beibringen und erläutern sowie ärztliche Behandlungsbedürftigkeiten nachweisen müssen. In diesem Punkt hält der DMSG-Bundesverband eine grundsätzliche Änderung für erforderlich.

Zu „Vorbemerkung“ Teil A: 

Die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ergibt sich zum einen aus der Weiterentwicklung der Medizin, der Krankheiten sowie ihrer Verbreitung und ihrer Folgebewältigung und zum anderen auch infolge der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Konkret fällt in die Zeit nach dem Jahr 2008 u.a. die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sowie das Bundesteilhabegesetz (BTHG), welches den Behinderungsbegriff in § 2 SGB IX neu gefasst hat, indem das Krankheitsfolgenmodell durch das Wechselwirkungsmodell abgelöst und auf die Teilhabe und deren Beeinträchtigung fokussiert wird. Auch ist das Soziale Entschädigungsrecht zum 01.01.2024 vollständig überarbeitet und im SGB XIV neu geregelt worden. Die Fortschreibung des Behinderungsbegriffes ist auch für das Schwerbehindertenrecht (Teil 3 SGB IX) sowie für das Soziale Entschädigungsrecht bedeutsam. 

Es ist nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE positiv hervorzuheben, dass vorliegendem Entwurf ein teilhabeorientiertes Verständnis von Behinderung zugrunde liegt, welches sich an der UN-BRK sowie auch der Internationalen Klassifikationen wie ICD und ICF orientiert. Damit wird anerkannt, dass Behinderung nicht lediglich auf die medizinische Diagnose reduziert wird, sondern vielmehr auf die tatsächlichen Teilhabebeeinträchtigungen im Alltag bezogen ist. Eine Bewertung auf die Behinderung allein, ohne die Würdigung von Barrieren im persönlichen Alltag, wird einer modernen Gesellschaft nicht gerecht und bleibt hinter den vertraglichen Voraussetzungen der UN-BRK zurück.

Insbesondere auch für Menschen mit seltenen Erkrankungen ist dies von Vorteil, da ihre Einschränkungen oft nicht allein durch die Diagnose, sondern durch die Auswirkungen auf das tägliche Leben bestimmt werden. Die Möglichkeit, Besonderheiten zu berücksichtigen und von den Richtwerten abzuweichen, ist laut der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE e.V.) als Mitgliedsverband der BAG SELBSTHILFE positiv zu bewerten, gerade weil seltene Erkrankungen häufig sehr unterschiedlich verlaufen und standardisierte Bewertungen nicht immer passen. 

Allerdings stößt die Anwendung des biopsychosozialen Modells im Rahmen des Schwerbehindertenrechts auch auf Grenzen, da diesem eine „abstrakt-konkrete Konzeption“ zugrunde liegt, welche dem Charakter des Schwerbehindertenrechts als Feststellungsrecht entspricht: Der Status soll bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen in Form von Schädigungen sowie Beeinträchtigungen generell gelten, ohne dass individuelle Kontextfaktoren oder einzelne Lebensbereiche eine besondere Berücksichtigung erfahren sollen. Auch die Schädigungen und Beeinträchtigungen sind zu typisieren, deshalb können Kontextfaktoren nur allgemein berücksichtigt werden, nicht aber individuell und in diesem Zusammenhang ist eine „standardisierte Umwelt“ zugrunde zu legen. Diese Konstruktion basiert auf der Idee der Gleichheit bei der Beurteilung von Kriegsbeschädigungen. 

Diese traditionellen Grundbedingungen des Schwerbehindertenrechts stehen jedoch in einem Spannungsverhältnis zu dem modernen Behinderungsbegriff, der eigentlich eine personenbezogene Erfassung der Teilhabebeeinträchtigung nahelegt, wie sie beispielsweise im Leistungsrecht durchgeführt wird (vgl. dazu §§ 13 und 118 SGB IX). 

Der vorliegende Vertragsentwurf kann daher aus Sicht der BAG SELBSTHILFE nur ein Zwischenstadium einer noch offenen Zukunftsdiskussion sein. Letztlich bedarf es im Beirat eines gemeinsamen Verständnisses welche Beeinträchtigung anerkannt und wie sie gewichtet wird. Es bedarf dabei multidisziplinären Betrachtung durch unterschiedliche Expert*innen, nicht nur durch Ärzt*innen, unter Beteiligung von betroffenen Bürger*innen bzw. ihrer Verbände. 

Insofern soll auch die neue Zusammensetzung des Sachverständigenbeirates zum einen die Interdisziplinarität und zum anderen einen breiten gesellschaftlichen Diskurs sicherstellen.

Wie ausgeführt, richten sich die in der Versorgungsmedizin-Verordnung verwendeten Begriffe der „Gesundheitsstörung“, „Funktionsbeeinträchtigung“ und „Teilhabebeeinträchtigung“ nach den Definitionen der sich ergänzenden Internationalen Klassifikationen der WHO: ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) und ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit). Der in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) verwendete Begriff „Gesundheitsstörung“ entspricht dem in der ICF verwendeten englischen Begriff „health condition“, der mit dem etwas engeren Begriff „Gesundheitsproblem“ in der ICF übersetzt worden ist. Als Gesundheitsproblem werden z.B. bezeichnet: Krankheiten, Gesundheitsstörungen, Verletzungen oder Vergiftungen und andere Umstände wie Schwangerschaft oder Rekonvaleszenz. Das Gesundheitsproblem wird für viele andere Zwecke typischerweise als Krankheitsdiagnose oder -symptomatik mit der ICD erfasst bzw. klassifiziert. 

In Bezugnahme auf diese Begrifflichkeiten begrüßt auch das Haus der Krebs-Selbsthilfe Bundesverband e.V. als Mitgliedsverband, dass die allgemeinen Versorgungsmedizinischen Grundsätze überarbeitet wurden und nach seinem Dafürhalten auch für eine begriffliche Klarheit gesorgt haben. Auch sieht es der Bundesverband positiv, dass der Behinderungsbegriff stärker am biopsychosozialen Modell der WHO (ICF) ausgerichtet wird sowie psychische Begleiterscheinungen und Schmerzen als eigenständige Diagnosen anerkannt werden, sofern sie die Kriterien einer ICD-Diagnose erfüllen. 

In diesem Kontext spricht sich der Verband zudem dafür aus, hereditäre Krebsdispositionen beim Grad der Behinderung einzubeziehen, denn bisher werden diese genetischen Veranlagungen nicht in der ICD-Klassifikation abgebildet und Betroffene gelten nicht als krank. Allerdings lassen sie zum Teil präventive Operationen, wie die Entfernung von Brustdrüsen oder Eierstöcken durchführen, und haben mit den vergleichbaren Beeinträchtigungen wie nach Organentfernung aufgrund einer Tumorentwicklung zu kämpfen. Die psychoonkologische Belastung durch Krebstherapien in der VersMedV hält der Bundesverband für nicht ausreichend bewertet; gleiches gelte für die Folgeerkrankung (Spätfolgen) nach Krebsbehandlungen.

Zu 1.1: “ Grad der Behinderung (GdB), Grad der Schädigungsfolgen (GdS)“:

Im Rahmen der Neufassung heißt es u.a. …“die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung“. Hier sollte nach Ansicht des DMSG-Bundesverbandes sowie der BAG SELBSTHILFE ergänzend explizit aufgeführt werden, dass eine Beurteilung des Einzelfalles zwingend ist und es nicht zu einer Verschlechterung kommen darf. Bestandschutzregelungen sollten hier ausdrücklich aufgeführt werden.

Zu 1.3.1: „Störungen des psychischen Befindens“:

Danach müssen etwaige psychische Beeinträchtigungen die Kriterien einer eigenständigen Diagnose im Sinne des ICD erfüllen, damit Komorbidität vorliegt.

Laut DMSG-Bundesverband ergibt sich aus der Begründung hierzu, dass diese Formulierung lediglich eine „präzisere Fassung“ darstellen soll. Dem kann nach Ansicht der DMSG nicht gefolgt werden. Nach deren Einschätzung spricht die gewählte Formulierung im Text für eine Verschärfung der Voraussetzungen für die Anerkennung von psychischen Beeinträchtigungen und führt zu einer Verschlechterung für Erkrankte. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass weiterhin unklar ist und bleibt, wann psychische Begleiterscheinungen „erheblich höher als zu erwarten“ sind, wie und durch wen ein Vergleich zu bilden bzw. nicht zu bilden ist. 

Zudem hängt es bei dieser Formulierung ausschließlich von der subjektiven Bewertung des Gutachters ab, ob und wie dieser die psychischen Beeinträchtigungen bewertet. Es ist zu befürchten, dass auch ausgeprägte psychische Beeinträchtigungen als „normal hoch“ und „als mit der Grunderkrankung zu erwarten“ eingeschätzt werden und daher keine Berücksichtigung finden. Ferner ist davon auszugehen, dass nur bei einer lückenlosen ärztlichen Dokumentation etwaiger psychischen Beeinträchtigungen diese überhaupt Berücksichtigung finden. 

Ergänzend erachten es daher die BAG SELBSTHILFE und der DMSG-Bundesverband für sinnvoll, eine Definition von Komorbidität im Verordnungstext aufzunehmen.

Zu 1.3.2: „übliche Schmerzen als Symptom einer Gewebeschädigung oder Gewebeerkrankung“:

Dasselbe gilt nach Ansicht des DMSG-Bundesverbandes für diese Ziffer. Die Berücksichtigung von Schmerzen erfordert nach der Begründung „eine über das übliche Maß hinausgehende nachgewiesene Schmerzhaftigkeit“, die eine ärztliche Behandlung erfordert. Als Beispiel werden Schmerzen von Nervenschädigungen genannt. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass eine Vielzahl von Schmerzen pauschal als typische Begleiterscheinung der Grunderkrankung angesehen werden und in Teil B keinerlei zusätzliche Berücksichtigung (mehr) finden. Ferner hängt die Berücksichtigung von der einseitigen und subjektiven Beurteilung der Gutachter ab. Es ist daher auch in diesem Fall mit einer deutlichen Verschlechterung hinsichtlich der Berücksichtigung von Schmerzen zu rechnen, eine Transparenz lässt sich nicht erkennen.

Zu 1.4: 

Nach Auffassung des DMSG-Bundesverbandes und der BAG SELBSTHILFE ist die Formulierung in Ziffer 1.4 irreführend und liest sich, als sei eine Einzelfallprüfung eher die Ausnahme. Hier muss vielmehr aufgenommen werden, dass immer eine Einzelfallprüfung erforderlich ist und die Anhaltspunkte als solche keine Einzelfallprüfung obsolet machen. Ebenfalls sollten Beispiele aufgeführt werden, weil andernfalls die Gefahr besteht, dass im Rahmen der Begutachtung die als Orientierung dienenden Anhaltswerte pauschal und blindlings übernommen werden, ohne dass der Einzelfall in Gänze berücksichtigt wurde.

Zu 1.5: “Nichtberücksichtigung der Wohnsituation oder des ausgeübten bzw. angestrebten Berufes“: 

Nach dieser Regelung, welche dem bisherigen Recht entspricht, spielen die Wohnsituation sowie weitere individuell neben der Gesundheitsstörung vorliegende Gegebenheiten wie bisher für den GdB keine Rolle.

Diese Regelung sieht die Achse e.V. kritisch dahingehend, als dass individuelle Lebensumstände wie Beruf oder Wohnsituation explizit nicht in die GdB-Bewertung einfließen. Gerade bei seltenen Erkrankungen können diese Faktoren jedoch eine erhebliche Rolle für die tatsächliche Teilhabe spielen. 

Zu 1.6: “Bei Gesundheitsstörungen, die in Teil B nicht aufgeführt sind, ist die Teilhabebeeinträchtigung in Analogie zu dort genannten vergleichbaren Gesundheitsstörungen zu bewerten.“

Diese Regelung, welche dem bisherigen Recht entspricht, bewertet die ACHSE e.V. ebenfalls als kritisch dahingehend, dass die VersMedV weiterhin auf Anhaltswerten für den Grad der Behinderung basiert, welche sich an typischen Verläufen orientieren. Für viele seltene Erkrankungen existieren jedoch keine spezifischen Anhaltswerte, sodass die Bewertung in Analogie zu anderen Erkrankungen erfolgen muss. Dies birgt das Risiko, dass die Besonderheiten seltener Erkrankungen nicht ausreichend berücksichtigt werden und Betroffene im Einzelfall benachteiligt, werden könnten. 

Der FASD Deutschland e.V. als Mitgliedsverband der BAG SELBSTHILFE, welcher sich neben Prävention zur Vermeidung vorgeburtlicher Schädigungen durch Alkohol für die Verbesserung der Teilhabebedingungen für Menschen mit fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD) in der Gesellschaft einsetzt, begehrt deshalb die Aufnahme in die VersMedV als besonders gelistete Erkrankung, weil eine mögliche analoge Bewertung, z.B. zu Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung, bei Menschen mit FASD zu einer unangemessen niedrigen GdB-Zuerkennung führen würde und insoweit den Besonderheiten dieser Erkrankung nicht gerecht werden würde. Menschen mit FASD haben lebenslang Stoffwechsel-, Bewegungs- und Wachstumsprobleme, wobei das Spektrum der Belastungen unterschiedlich stark ausgeprägt ist, jedoch in jeder Form unheilbar und lebenslang andauernd bei Verschlechterung mit zunehmendem Alter. 

Aus vorgenannten Gründen ist auch die Interessengemeinschaft Epidermolysis Bullosa e.V. DEBRA Deutschland (IEB) – ebenfalls Mitglied der BAG SELBSTHILFE - der Ansicht, Epidermolysis Bullosa als genetisch bedingte Multisystemerkrankung in die Versorgungsmedizin-Verordnung als besonders gelistete Erkrankung aufzunehmen. Neben einer extremen Fragilität der Haut sind auch innere Organe betroffen. Das Spektrum der Einschränkungen und Symptome ist sowohl in Anzahl als auch in Schwere sehr vielfältig; die Betroffenen leben mit starken, chronischen Schmerzen und sind in ihrem Alltag erheblich eingeschränkt. Schwere Formen können bereits im Kindesalter zum Tod führen, allerdings versterben viele Patient*innen auch im frühen und mittleren Erwachsenenalter an Infektionen oder an einem besonders aggressiven, stets letalen Hautkrebs.

Zu 1.7: 

Nach Ansicht des DMSG-Bundesverbandes birgt die in Ziffer 1.7 gewählte Formulierung die Gefahr, dass Unklarheiten bestehen, wann überhaupt „mit einer im Verlauf typischerweise unterschiedlich stark ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung“ ausgegangen wird. Es ist damit zu rechnen, dass nicht alle Schübe berücksichtigt werden, sondern nur solche, die zeitlich schnell aufeinanderfolgen und jeweils mit sehr starken Funktionsbeeinträchtigungen einhergehen. 

Zudem ist laut DMSG völlig unklar, wie Schwankungen bei längerem Verlauf Rechnung zu tragen ist. Auch die Formulierung hinsichtlich „abklingender Gesundheitsstörungen“ ist derart schwammig formuliert, dass mit Rechtsunsicherheiten und einer Verschlechterung zu rechnen ist. Es besteht insgesamt die Gefahr, dass “Erkrankungsschübe“ nicht ausreichend berücksichtigt werden. 

In der Begründung wird formuliert, es sei ein „Mittelwert für das Ausmaß der Beeinträchtigung“ zu bilden. Es sollten konkrete Beispiele eingefügt sowie detailliert und damit transparent ausgeführt werden, wie der Mittelwert zu bilden ist. Andernfalls besteht die Gefahr, dass chronische Erkrankungen, die typischerweise mit Schüben unterschiedlichsten Ausmaß einhergehen, und deren Auswirkungen insgesamt nicht bzw. nicht in ausreichendem Maße Berücksichtigung finden. Hier fordert die DMSG für die Multiple Sklerose (MS) zudem bereits in Teil A aufzunehmen, dass die Begutachtung nur von Fachärzt*innen mit hinreichender Erfahrung auf dem Gebiet der MS erfolgen darf.

Auch die BAG SELBSTHILFE fordert in diesem Kontext nachdrücklich, dass die Bewertung einer bestimmten Behinderungs- oder Erkrankungsart von einem entsprechenden Facharzt vorzunehmen ist, da nur so die erforderliche Kompetenz bei der Beurteilung der Auswirkungen der Erkrankung zutreffend beurteilt werden kann. Dies gilt insbesondere auch für seltene Erkrankungen sowie für das Vorliegen komplexer medizinischer Sachverhalte.

Zu Nr. 1.9: „Zeitpunkt der GdB-/GdS-Feststellung“: 

Nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE ist zur Verfahrensvereinfachung sowie zur Vermeidung unnötiger Rechtsstreitigkeiten in Teil A der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) auch eine entsprechende Klarstellung dahingehend aufzunehmen, wann bzw. ab welchem Zeitpunkt genau die Feststellung des GdB und der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche erfolgt. 

Grundsätzlich sind sämtliche Befunde, die während des Feststellungsverfahrens nach § 152 Abs. 1 S. 1 SGB IX erhoben werden, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Erhebung bei der Ermittlung des GdB bzw. gesundheitlicher Merkmale ab dem Tag der Antragstellung zu berücksichtigen. Eine Ausnahme hiervon besteht nur dann, wenn ein Befund auf einer nach Antragstellung eingetretenen Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse beruht, die im Falle einer Verschlechterung – z.B. infolge eines akuten Ereignisses - offensichtlich sein muss (z.B.: Herzinsuffizienz nach einem Herzinfarkt oder Schwerhörigkeit nach einem Knalltrauma oder Hörsturz).

Wird die Feststellung eines GdB oder gesundheitlicher Merkmale auch zu einem früheren Gültigkeitszeitpunkt beantragt, so ist bei der rückwirkenden Prüfung von den ab Antragsdatum getroffenen Feststellungen auszugehen. Diese dürfen nachträglich weder relativiert noch sonst zu Ungunsten des Antragstellers/der Antragstellerin in Zweifel gezogen werden. 

Zur Begründung (ebenfalls in Teil A aus Gründen der Transparenz aufzunehmen) ist folgendes ins Feld zu führen: 

- Der in § 152 Abs. 1 S. 1 SGB IX enthaltene Grundsatz der Feststellung des GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung stellt eine zu beachtende Besonderheit gegenüber anderen sozialrechtlichen Antragsverfahren dar. Dazu zählen beispielsweise Anträge auf Rente wegen Erwerbsminderung nach den §§ 43, 240 SGB VI mit der erforderlichen Feststellung einer Erwerbsminderung, für die ein so genau definierter „Stichtag“ nicht existiert. So wird der Eintritt der Erwerbsminderung häufig zum Antragsdatum festgestellt, er kann aber auch erst zu einem späteren oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt (z.B. ab Beginn einer Arbeitsunfähigkeit) anerkannt werden.

- Aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes nach § 20 SGB X ist die Behörde alleiniger „Herr des Feststellungsverfahrens“. Sie ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen und bestimmt dabei Art und Umfang der Ermittlungen. In Verfahren zur Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft erwerbstätiger Personen hat sie zudem auch die Fristen nach § 14 Abs. 2 S. 2 und 3 SGB IX sowie § 17 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 SGB IX zu beachten (sog. Beschleunigungsgrundsatz). Darüber hinaus hat die Behörde alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen.

- In diesem Kontext ist die den Antragsteller/Antragstellerin treffende Beweislast für das Vorliegen einer von ihm/ihr geltend gemachten Gesundheitsstörung (Beweis erbracht durch Befunde oder Gutachten) strikt von der behördlichen Verpflichtung zu trennen, den zugrunde liegenden Sachverhalt zeitnah und vollständig, ggf. auch durch eine persönliche Untersuchung des Antragstellers, aufzuklären und den GdB ab dem Antragsdatum richtig festzustellen. Hierbei kommt es jedoch immer wieder zu Vermischungen sowie Verwechslungen der jeweiligen Verantwortlichkeiten. Unter der Voraussetzung, dass der Antragsteller/Antragstellerin seinen/ihren Verpflichtungen nach §§ 60 ff. SGB I zügig und vollumfänglich nachkommt und auch die Korrespondenz mit den behandelnden Ärzten zu keinen wesentlichen Verzögerungen führt, trägt allein die Behörde die Verantwortung für eine zeitnahe und vollständige Aufklärung des Sachverhalts. Unsicherheiten aufgrund einer verspäteten Sachverhaltsaufklärung (z.B. durch Befunderhebungen, Gutachten) können insoweit nicht zulasten des Antragstellers/der Antragstellerin gehen, weil eine Beeinflussung dieses Risikos nicht in seiner/ihrer Macht liegt.

- Die maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen (§§ 152 Abs. 1, 14 und 17 SGB IX i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1 SchwbAwV, § 20 SGB X) dienen daher auch dazu, den Antragsteller/die Antragstellerin vor unzumutbaren Benachteiligungen aufgrund der Dauer eines Verfahrens zu schützen und die Feststellung eines GdB oder gesundheitlicher Merkmale im Rahmen eines Massenverfahrens zu vereinfachen und zu beschleunigen. Dies liegt nicht zuletzt auch im Interesse der Feststellungbehörden und gilt auch für eine rückwirkende Feststellung.

- Im Falle des § 152 Abs. 1 S. 2 SGB IX ist darüber hinaus auch die zum Teil enge Beziehung zwischen dem Sozialrecht und dem Steuerrecht zu beachten, aus dem heraus häufig ein berechtigtes Interesse an einer rückwirkenden Feststellung eines GdB oder gesundheitlicher Merkmale erwächst. So wird im Einkommensteuerrecht etwa die Festsetzung des Behinderten-Pauschbetrages zugunsten des Steuerpflichtigen recht großzügig gehandhabt, indem der höchste GdB - ungeachtet des tatsächlichen Feststellungszeitpunktes - für das gesamte Steuerjahr maßgebend ist. In Analogie hierzu sollten auch rückwirkende Feststellungen im Rahmen des SGB IX - insbesondere für dasselbe Kalenderjahr - nicht unnötig erschwert werden. Dies würde auch Verfahren zur Gewährung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen betreffen, bei denen die zum Rentenbeginn erforderliche Schwerbehinderteneigenschaft (§§ 37, 236a SGB VI) oftmals nur durch eine rückwirkende GdB-Feststellung zu erreichen ist, die zumeist nur einen geringen Zeitraum umfasst. 

Zu 2: „Heilungsbewährung“:

Zu befürworten ist nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE, dass die bisher in Teil B der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) geregelte Heilungsbewährung nunmehr in den Teil A gezogen wurde. Denn Ziel der Heilungsbewährung ist es gerade, durch eine pauschale Bewertung des GdB vor allem transplantieren sowie krebskranken Menschen unmittelbar nach Diagnosestellung und Behandlungsbeginn rasch und ohne aufwendige Ermittlungen zunächst unterschiedslos einen GdB von mindestens 50 und damit den Schwerbehindertenstatus zuzubilligen. Diese grundsätzlich vorgesehene Pauschalierung entlässt jedoch die Versorgungbehörden nicht aus ihrer Verpflichtung, besonders gelagerten Einzelfallkonstellationen Rechnung zu tragen sowie außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung gegebenenfalls zusätzlich zu berücksichtigen. 

Neben der definitorischen Klarstellung der Heilungsbewährung unter 2.1 ist auch in der Begründung zum Verordnungsentwurf explizit klargestellt, dass das Ende der Heilungsbewährung nicht zwangsläufig bedeutet, dass auch tatsächlich eine Heilung eingetreten ist.

Diese Klarstellung befürwortet auch das Haus der Krebs-Selbsthilfe mit dem Tenor, dass für Krebspatient*innen auch nach 5 Jahren Heilungsbewährung noch keine Heilung im ganzheitlichen Sinne, wie in der UN-BRK festgehalten, eingetreten ist. Die psychischen Belastungen von Krebs als chronischer Erkrankung unterliegen schlichtweg keiner Heilungsbewährung, sondern Ziel ist vielmehr eine bestmögliche Lebensqualität.

Zu Nr. 3: „Grundsätze für die Bildung des Gesamt-GdB“: 

Diese Regelungen beinhalten, unter welchen Voraussetzungen bei Vorliegen mehrerer Gesundheitsstörungen ein Gesamt-GdB zu bilden ist. 

Nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE sowie auch des DMSG-Bundesverbandes führen die Formulierungen in Ziffer 3. zur Bildung des Gesamt-GdB nicht dazu, dass es zu mehr Transparenz kommen wird. Die bestehenden Schwierigkeiten bei der Bildung eines Gesamt-GdB bleiben unverändert bestehen, es drohen eine weitere Verschlechterung sowie die Gefahr zusätzlicher Rechtsunsicherheit.

Auch nach Ansicht der ACHSE e.V. führen die Regelungen in Ziffer 3. – 3.6 in der Praxis zu Unsicherheiten, insbesondere wenn seltene Erkrankungen mit unspezifischen oder wechselnden Symptomen einhergehen.

Zu 3.1/3.5:

Sowohl für die BAG SELBSTHILFE als auch für die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) stellt die Frage, wie „leichte Funktionsbeeinträchtigungen“ im Rahmen der Bildung eines Gesamt-GdB zu berücksichtigen sind. 

Zudem sollte bereits in Z. 3.1 aufgeführt werden, dass eine Einzelfallprüfung unabdingbar ist. Auch sollte die in Ziffer 3.6 Satz 2 erfolgte Klarstellung bereits in dem Text etwaige Erkrankungen aufführen und deutlich machen, dass es sich um eine Klarstellung handelt. Hinsichtlich der in der Begründung aufgezählten Erkrankungen ist sicherzustellen, dass es sich nicht um eine abschließende Aufzählung handelt. 

Schließlich erachten der DMSG-Bundesverband und die BAG SELBSTHILFE Besitzstandsregelungen insgesamt für dringend erforderlich, weil andernfalls mit Verschlechterungen auch im Rahmen von Änderungsanträgen zu rechnen ist. Ferner ist mit einer Vielzahl von Widerspruchsverfahren und Rechtsstreitigkeiten zu rechnen.

3.Fazit:

Auch wenn die Überarbeitung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze im Teil A zu begrüßen ist, ist nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE jedenfalls darauf zu achten, dass sich die Anwendung der allgemeinen Grundsätze nicht verkompliziert und sie keine zusätzlichen bürokratischen Aufwände schafft. Auch ist im Zuge der Überarbeitung bzw. Anpassung von Teil A unbedingt dafür Sorge zu tragen, dass es nicht zu Verschlechterungen aus Sicht der betroffenen Bürger*innen kommen darf.

Festzuhalten ist, dass das Spannungsverhältnis zwischen modernem Behinderungsbegriff und Konstruktion der Schwerbehindertenrechts auch durch die Überarbeitung des Teils A nach wie vor nicht aufgelöst wird.

Zudem wird angeregt, die Begründung des Allgemeinen Teiles in dem vorliegenden Verordnungsentwurf mit zu veröffentlichen, aus Gründen der Transparenz. Unabhängig davon könnte dies die Anwendung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze sowie das Verständnis erleichtern.

Schließlich möchte die BAG SELBSTHILFE nicht unerwähnt lassen, dass alle weiteren Fragen, welche sich auf die Umsetzung selbst beziehen, wie z.B. die Gestaltung des Verwaltungsverfahrens, angemessene Sachverhaltsaufklärung, Befundberichte auf der Basis des biopsychosozialen Modells, Umsetzung des Amtsermittlungsgrundsatzes, Verbesserung der Personalausstattung, Qualifikation des Personals sowie Ermöglichung auch persönlicher Untersuchungen - statt wie derzeit de facto allein auf die Aktenlage zu setzen - zwar erst in der Bearbeitung von Teil B relevant werden, aber um auch in diesem Teil eine zutreffende Zuordnung vornehmen zu können, sind aussagekräftige Informationen, Anwendungshinweise, die barrierefrei und niedrigschwellig zur Verfügung stehen, hilfreich. In diesem Kontext spielt insbesondere auch die sprachliche Barrierefreiheit eine wichtige Rolle, d. h. die Bescheide sollten entsprechend angepasst und in einfacher, verständlicher Sprache verfasst werden. 

Berlin/Düsseldorf, den 05.05.2025

Stellungnahme

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