Systematik des Entwurfes:
Mit vorliegendem Gesetzentwurf begrüßt die BAG SELBSTHILFE grundsätzlich, dass das seit 2002 bestehende Gewaltschutzgesetz gestärkt und somit der zivilrechtliche Schutz gegen häusliche Gewalt nachhaltig verbessert werden soll. Dies soll zum einen geschehen durch die Aufnahme des Instrumentes der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (elektronische Fußfessel), durch Erhöhung des Strafrahmens aufgrund von Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz sowie durch gesetzliche Verankerung einer bundeseinheitlichen Rechtsgrundlage für die gerichtliche Anordnung verpflichtender Anti-Gewalt-Trainings für Täter. Zudem sollen die Familiengerichte zur Gefährdungsanalyse in Gewaltschutz- und Kindschaftssachen die Möglichkeit für Auskünfte aus dem Waffenregister erhalten.
Ergänzungsbedarfe und Kritikpunkte:
Um allerdings eine nachhaltige Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen in Deutschland zu erreichen und damit insbesondere auch zu einer wirksamen Bekämpfung von (sexualisierter) Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen beizutragen, bedarf es nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE weiterer gesetzlicher Konkretisierungen bzw. Ergänzungen in vorliegendem Entwurf:
Zu § 1 Abs. 1 GewSchG: Gerichtliche Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt und Nachstellungen
(1) Hat eine Person vorsätzlich den Körper, die Gesundheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person widerrechtlich verletzt, hat das Gericht auf Antrag der verletzten Person die zur Abwendung weiterer Verletzungen erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Die Anordnungen sollen befristet werden; die Frist kann verlängert werden. Das Gericht kann insbesondere anordnen, dass der Täter es unterlässt,
(1) 1. die Wohnung der verletzten Person zu betreten,
2. sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung der verletzten Person aufzuhalten,
3. zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich die verletzte Person regelmäßig aufhält,
4. Verbindung zur verletzten Person, auch unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln, aufzunehmen,
5. Zusammentreffen mit der verletzten Person herbeizuführen, soweit dies nicht zur Wahrnehmung berechtigter Interessen erforderlich ist.
Diese Regelung bedarf einer Ergänzung dahingehend, dass Frauen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen, welche in der eigenen Wohnung leben, bei einer Wegweisung der Tatperson, die regelhaft Assistenz oder Pflege leistet, einen Anspruch auf Notversorgung/Notassistenz haben. Diese Notversorgung muss einkommens- und vermögensunabhängig sein. In der Konsequenz bedeutet dies, dass potenzielle Abhängigkeitsverhältnisse (z.B. von Pflegeperson/Betreuungsperson/Pflegenotdienst) bei Notwendigkeit unkompliziert sowie auch unbürokratisch geändert werden können. In diesem Kontext ist auch die Vermittlung leicht verständlicher niedrigschwelliger Informationen sowie die Anbindung an Beratungsangebote unerlässlich. Schließlich muss in Fällen sexualisierter/häuslicher Gewalt oder Gewalt in Pflegebeziehungen eine schnelle rechtliche Bearbeitung zur Prävention einer sekundären Traumatisierung gewährleistet sein. Auch müssen physische und psychische Barrieren im Rahmen gerichtlicher Anhörungen durch Kenntnis über Kommunikationshilfen oder Prozessbegleitung abgebaut werden.
Zu § 1 Abs. 3 GewSchG:
(3) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 oder des Absatzes 2 kann das Gericht die Maßnahmen nach Absatz 1 auch dann anordnen, wenn eine Person die Tat in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen hat, in den sie sich durch geistige Getränke oder ähnliche Mittel vorübergehend versetzt hat.
Nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE muss die vorgenannte Regelung um einen Absatz dahingehend erweitert werden, dass auch gegenüber Tatpersonen, die aufgrund einer Beeinträchtigung oder Behinderung schuldunfähig sind, entsprechende Maßnahmen wie Näherungsverbote oder eine Wegweisung durch die Polizei, angeordnet werden können.
Zu § 1 Abs. 4 GewSchG-E:
Erachtet es das Gericht in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 oder des Absatzes 2 im Einzelfall für erforderlich, so kann es anordnen, dass der Täter binnen einer vom Gericht gesetzten Frist an einem sozialen Trainingskurs bei einer vom Gericht benannten Person oder Stelle teilnimmt.
Die BAG SELBSTHILFE begrüßt ausdrücklich die verpflichtende Täterarbeit (soziale Trainingskurse). Allerdings bleibt die im Referentenentwurf vorgeschlagene Formulierung zu unbestimmt, und eröffnet insoweit einen Ermessensspielraum, welcher in der Praxis nicht zu einer einheitlichen Rechtsprechung führen wird. Die BAG SELBSTHILFE ist daher der Ansicht, dass bei Erlass von Gewaltschutzanordnungen zwingend eine Anordnung zur Teilnahme an einem solchen Trainingskurs für den Täter erfolgen muss. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass verpflichtende Anordnungen ohne Einwilligung der Täter durch Gerichte sinnvoll sind, weil sie eine intensive Auseinandersetzung mit dem vorgeworfenen aggressiven Verhalten bedeuten. Eine gesetzliche Verankerung von Täterarbeit geht zudem mit dem Bedarf eines Ausbaus der Angebote der Täterarbeit einher und insoweit ist auch zu fordern, dass hierfür ausreichend finanzielle Mittel bereitgestellt und flächendeckend Angebote der Täterarbeit gemäß der Qualitätsstandards der BAG TäHG e.V. bereitgestellt werden. Zudem ist hinzuzufügen, dass die Verpflichtung zu barrierefreien Trainingskursen besteht, denn nur so können auch Tatpersonen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen teilnehmen.
Zu § 1a GewSchG-E: Elektronische Aufenthaltsüberwachung
(1) Wenn es zur Kontrolle der Befolgung einer nach § 1 Absatz 1 Satz 3 Nummer 1, 2, 3 oder 5, auch in Verbindung mit § 1 Absatz 2, getroffenen Gewaltschutzanordnung unerlässlich ist, den Aufenthalt des Täters zu überwachen und seine Aufenthaltsdaten zu verwenden, kann das Gericht den Täter verpflichten,
1. sich ein technisches Mittel, mit dem sein Aufenthalt elektronisch überwacht werden kann, anlegen zu lassen ….
Danach können Familiengerichte eine elektronische Aufenthaltsüberwachung anordnen, wenn es „unerlässlich ist, den Aufenthalt des Täters zu überwachen“. Um Rechtssicherheit in der Anwendung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung durch die Familiengerichte herzustellen, müssen jedoch nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE klare Kriterien gesetzlich verankert werden. Zwar kann im Einzelfall eine elektronische Aufenthaltsüberwachung bewirken, dass Gewalthandlungen des Täters unterbrochen werden, eine solche Maßnahme reicht jedoch keinesfalls als alleinige Maßnahme zur Prävention von Femiziden oder zum Schutz hochgefährdeter Frauen, insbesondere Frauen mit Beeinträchtigungen, aus. Der Einsatz einer solchen Maßnahme muss vielmehr in ein Gesamtkonzept von Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen eingebettet sein. Denn Tötungen von Frauen finden auch in Situationen statt, in welchen der Täter noch keine Gewalt gegen die Betroffene ausgeübt hat oder kein Gewaltschutzantrag erfolgt ist.
In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die elektronische Fußfessel in Spanien in eine flächendeckende Gesamtgewaltschutz-Strategie eingebettet ist. Diese sieht u.a. eine Vielzahl präventiver Maßnahmen, von der Schule beginnend an vor, und sie bietet bei geschlechtsspezifischer Gewalt rund um die Uhr psychosoziale und juristische Unterstützung und es gibt gesonderte Gerichte, welche schnell agieren können. Des Weiteren werden Risikoeinschätzungen multiprofessionell vorgenommen und unterliegen einem Monitoring. Polizei, Gesundheitswesen und auch Justiz müssen zudem stetig an einer professionellen Aus- und Weiterbildung teilnehmen. Auch die flächendeckende Täterarbeit mit Qualitätsstandards gehört zur Gesamtgewaltschutz-Strategie in Spanien.
Des Weiteren muss eine systematische Gefährdungsanalyse Voraussetzung zur Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung sein, welche nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE stets die besonderen Interessen der Betroffenen zu berücksichtigen und diese einzubinden hat. Insofern sind bei identifizierten Hochrisikofällen umgehend mit Zustimmung der betroffenen Frauen verpflichtend Fallkonferenzen einzuberufen, an denen die Familiengerichte beteiligt sind. Familienrichter*innen sind jedoch bisher nicht entsprechend geschult für eine Gefährdungseinschätzung und verfügen nicht über die notwendigen Kenntnisse, um über die Erforderlichkeit von entsprechenden Maßnahmen sachgerecht entscheiden zu können. Insoweit sollten für Familienrichter*innen auch verpflichtende Schulungen durchgeführt werden, um deren Kompetenzen im Umgang mit Hochrisikofällen zu stärken.
Unabhängig davon ist auch festzustellen, dass zur Beurteilung des Vorliegens eines „Hochrisikofalles“ der vorliegende Referentenentwurf die Einbindung von Gutachtern - wie z.B. bei der Sicherungsverwahrung - nicht vorsieht, sodass nach unserem Dafürhalten auch kritisch der tatsächliche Sinn und Zweck einer solchen elektronischen Aufenthaltsüberwachung zu hinterfragen ist. Expert*innen aus dem Bereich der Kriminologie warnen zudem in diesem Kontext auch davor, die elektronische Fußfessel als „Wundermittel“ gegen Femizide zu sehen. Die meisten Frauen, welche von ihren Partnern bzw. Ex-Partnern getötet wurden, hatten vorher kein Kontakt- bzw. Annäherungsverbot beantragt. In diesen Fällen hätte also auch keine elektronische Aufenthaltsüberwachung zur Durchsetzung der Gewaltschutzanordnungen vorgeschrieben werden können. Der vorliegende Gesetzentwurf, so kriminologische Stimmen, nütze insoweit vor allem den Frauen, welche sich wehren und staatliche Institutionen einschalten, dies sei jedoch eher eine kleine Minderheit.
Schließlich regt die BAG SELBSTHILFE bei Einführung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung die wissenschaftliche Evaluierung der Maßnahme an, um deren Nutzen und Wirkung zu überprüfen.
Zu § 2 Abs.1 GewSchG: Überlassung einer gemeinsam genutzten Wohnung
(1) Hat die verletzte Person zum Zeitpunkt einer Tat nach § 1 Abs. 1 Satz 1, auch in Verbindung mit Abs. 3, mit dem Täter einen auf Dauer angelegten gemeinsamen Haushalt geführt, so kann sie von diesem verlangen, ihr die gemeinsam genutzte Wohnung zur alleinigen Benutzung zu überlassen.
Nach vorgenannter Regelung greift das Gewaltschutzgesetz nicht in Einrichtungen der Behindertenhilfe (ambulante und stationäre Wohneinrichtungen, WfbM) und benachteiligt dort lebende bzw. arbeitende Frauen mit Behinderungen, welche von (sexualisierter) Gewalt betroffen sind. Die Formulierung „einen auf Dauer angelegten gemeinsamen Haushalt“ schließt ambulante sowie stationäre Wohneinrichtungen und Werkstätten für behinderte Menschen aus und damit die Möglichkeit, dass gewaltbetroffene Frauen in Einrichtungen Wegweisung des Täters erreichen können, wenn dieser auch Bewohner der Einrichtung ist.
Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen erleben besonders häufig geschlechtsspezifische Gewalt, so etwa 2–3-mal häufiger sexualisierte Gewalt und etwa doppelt so häufig körperliche Gewalt wie nichtbehinderte Frauen. Dies gilt auch für Wohneinrichtungen, in denen sie teilweise noch häufiger (sexualisierte) Gewalt erleben, oft durch Mitbewohner, welche ebenfalls eine Beeinträchtigung haben.
Hier muss nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE eine entsprechende gesetzliche Klarstellung bzw. Erweiterung erfolgen, welche auch ambulante und stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe umfasst.
Berlin/Düsseldorf, den 19.09.2025