Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten des Bundesministeriums für Justiz (Bearbeitungsstand: 21.11.2022)

Für die Möglichkeit zur Stellungnahme zu dem o.g. Referentenentwurf möchte die BAG SELBSTHILFE herzlich danken. Als Dachverband von 123 Bundesorganisationen der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen und von 12 Landesarbeitsgemeinschaften nehmen wir zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten wie folgt Stellung:

Forderungen und Nachbesserungsbedarfe der BAG SELBSTHILFE:

Grundsätzlich begrüßt die BAG SELBSTHILFE, dass mit den vorgeschlagenen Neuregelungen die Möglichkeiten des Einsatzes von Videokonferenztechnik in den Verfahrensordnungen über die derzeit geltende Rechtslage hinaus erweitert werden soll.

Allerdings nehmen wir in diesem Kontext auch mit Befremden zur Kenntnis, dass mit den geplanten Neuregelungen gesetzliche Vorgaben zur Barrierefreiheit der Videokonferenztechnik fehlen und insoweit auch die Barrierefreiheitsanforderungen nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) sowie den entsprechenden Landesbehindertengleichstellungsgesetzen einschließlich der Vorgaben zur Barrierefreien- Informationstechnik-Verordnung-BITV 2.0 offenkundig keine Gültigkeit beanspruchen. Unter dieser Prämisse ist es aber umso wichtiger, konkrete Vorschriften zur Schaffung von Barrierefreiheit auch in den jeweilen Verfahrensvorschriften zu fordern - so wie dies bereits in Bezug auf Kommunikationshilfen für hörbehinderte Menschen sowie hinsichtlich der Verwendung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Menschen bereits der Fall ist gemäß der §§ 186 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), 191a GVG.

So enthält § 186 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) eine Regelung hinsichtlich der Verständigung mit hörbehinderten Personen und § 191a GVG Vorgaben zur Verwendung von Dokumenten, die für blinde und sehbehinderte Personen barrierefrei zugänglich sein müssen. Diese Normen finden durch Verweis in den anderen Verfahrensgesetzen der Fachgerichtsbarkeiten entsprechend Anwendung, z.B. nach § 61 Sozialgerichtsgesetz (SGG) oder § 52 Finanzgerichtsordnung (FGO).

Darüberhinausgehend sind in diesen Gesetzen bisher keine weiteren besonderen Verfahrensregelungen, etwa zur Verwendung von Leichter Sprache, eingefügt worden.

Aus den allgemeinen Prozessvorschriften und nicht zuletzt aus Art. 103 GG ergibt sich jedoch, dass auch ein Prozessbeteiligter, der beispielsweise aufgrund gesundheitlicher  Einschränkungen oder weil er der deutschen Sprache nicht mächtig ist, durch entsprechende Abhilfe/Unterstützung in die Lage versetzt werden muss, seine Rechte vor Gericht hinreichend zu verfolgen bzw. zu verteidigen und somit ein faires Verfahren zu erhalten. Schon hieraus und auch vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) lässt sich ableiten, dass etwa ein Prozessbeteiligter mit kognitiven Einschränkungen grundsätzlich Anspruch auf eine Übersetzung in Leichte Sprache hat und ein Gericht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung auch einem Rollstuhlfahrer den Zugang zum Gerichtsaal ermöglichen muss.

Aus den vorgenannten Gründen sind im Einzelnen folgende Ergänzungen des Gesetzesentwurfes nach unserem Dafürhalten dringend geboten:

a).

Grundsätzlich ist es unseres Erachtens sinnvoll, auf die Beachtung von Barrierefreiheit - auch in Bezug auf den Einsatz von Videotechnik bzw. sonstigen digitalen Mitteln - gebündelt an einer zentralen Stelle im jeweiligen Verfahrensgesetz hinzuweisen. Denkbar wäre beispielsweise in Ergänzung zu den o.g. Regelungen der §§ 186 und 191a GVG, ggf. auch in der ZPO - etwa in Buch 2, Abschnitt 1, Titel 1 - (und dann mit den entsprechenden Verweisen in den anderen Gerichtsgesetzen bzw. Prozess-ordnungen) folgende Regelung zu verankern:

"Die Gerichte haben in allen Verfahrensabschnitten darauf zu achten, ob Bedarfe zur Schaffung von Barrierefreiheit bestehen. Beim Einsatz von Video- und sonstiger digitaler Technik finden die Vorgaben nach der Barrierefreien-Informationstechnik-Verordnung (BITV) entsprechend Anwendung. Die Prozessbeteiligten sind zu Beginn eines Verfahrens auf die Möglichkeit zum Einsatz von Hilfsmitteln und sonstiger Unterstützung zur Herstellung von Barrierefreiheit hinzuweisen."

b).

Für den Fall, dass Hinweise auf die erforderliche Schaffung von Barrierefreiheit in den nach dem vorliegenden Referentenentwurf geplanten Neuregelungen vorgezogen werden, werden folgende Ergänzungen vorgeschlagen:

Ergänzungsvorschläge (in kursiv)

Artikel 1 - Änderung des Gerichtsverfassungsgerichts

§ 193 GVG

Neu (1): Die Beratung und die Abstimmung können mit Einverständnis aller zur Entscheidung berufenen Richter ganz oder teilweise per Bild- oder Tonübertragung durchgeführt werden. In diesem Fall ist durch organisatorische und technische Maßnahmen die Wahrung des Beratungsgeheimnisses sicherzustellen. Die gesetzlichen Vorgaben zur barrierefreien Informationstechnik finden entsprechend Anwendung.

(neu: 2) Bei der Beratung und Abstimmung dürfen außer den zur Entscheidung berufenen Richtern nur die bei demselben Gericht zu ihrer juristischen Ausbildung beschäftigten Personen und die dort beschäftigten wissenschaftlichen Hilfskräfte zugegen sein, soweit der Vorsitzende deren Anwesenheit gestattet.

...

Artikel 2 - Änderung des Beratungshilfegesetzes

§ 4 BerHG

Neu (2): der Antrag kann vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt oder schriftlich gestellt werden; ...

Neu (3): Dem Antrag sind beizufügen: ...

In geeigneten Fällen kann die Geschäftsstelle die Erklärungen nach Satz 1 auch zu Protokoll aufnehmen.

Neu (4): Bei allen Formen der Antragstellung sind die Aspekte der Barrierefreiheit zu beachten.

Artikel 3 - Änderung der Zivilprozessordnung

§ 117 ZPO

(1) Der Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe ist bei dem Prozessgericht zu stellen; er kann vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden. Die Antragstellung muss dem Antragsteller in barrierefreier Form ermöglicht werden.

§ 128a ZPO

Neu (1) - (7): ...

Neu (8): Die Videoübertagung ist auf Antrag eines oder mehrerer Verfahrensbeteiligten in der erforderlichen barrierefreien Form durchzuführen. Wird eine Verhandlung per Bild- und Tonübertragung für eine oder mehrere Verfahrensbeteiligte auf Antrag oder von Amts wegen angeordnet, sind alle Verfahrensbeteiligten im Vorfeld der mündlichen Verhandlung auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme barrierefreier Kommunikations- und sonstiger Hilfen ausdrücklich hinzuweisen. Das Gericht muss den Verfahrensbeteiligten für die Stellung des Antrags auf Nutzung barrierefreier Kommunikations- oder sonstiger Hilfe eine angemessene Frist einräumen.

§ 129a ZPO

(1) Anträge und Erklärungen, deren Abgabe vor dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zulässig ist, können vor der Geschäftsstelle eines jeden Amtsgerichts zu Protokoll abgegeben werden.

Neu (2): Die Abgabe von Anträgen und Erklärungen nach Absatz 1 kann auch per Bild- und Tonübertragung erfolgen.

Hierfür werden die Vorgänge zeitgleich in Bild und Ton an diejenigen Orte übertragen, an denen sich die erklärende Person und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle aufhalten. Die Übertragung wird nicht aufgezeichnet. § 162 Absatz 1 Satz 1 und 3 gilt entsprechend.

Neu (3): Für Anträge und Erklärungen nach Absatz 1 und 2 sind bei Bedarf Kommunikations- und sonstige unterstützende Hilfen zur Verfügung zu stellen.

§ 141 ZPO

Neu (nach Abs. 1 Satz 2): Das Gericht kann das persönliche Erscheinen auch als Teilnahme an einer Videoverhandlung nach § 128a anordnen. Ist einer Partei aus wichtigem Grund das persönliche Erscheinen in dem Termin nicht zuzumuten, so sieht das Gericht von der Anordnung ihres persönlichen Erscheinens ab. Ein wichtiger Grund kann insbesondere mangelnde Barrierefreiheit sein, die einer Partei ein Erscheinen unzumutbar macht.

§ 160 ZPO

Neu (1):  ...

6. in den Fällen des § 128a Absatz 5 Satz 1 bei öffentlichen Verhandlungen die   Feststellung, dass die Öffentlichkeit nach § 128a Absatz 5 Satz 3 hergestellt sowie die Barrierefreiheitsanforderungen für alle Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit erfüllt wurden.

§ 160 ZPO

Neu (5): Einsicht in die vorläufigen Aufzeichnungen in Ton oder in Bild und Ton wird durch den Vorsitzenden in entsprechender Anwendung des § 299 Absatz 3 gewährt. Die Einsichtnahme muss barrierefrei möglich sein.

§ 162 ZPO

Neu (1): Das Protokoll ist insoweit, als es Feststellungen nach § 160 Abs. 3 Nr. 1, 3, 4, 5, 8, 9 oder zu Protokoll erklärte Anträge enthält, den Beteiligten vorzulesen, zur Durchsicht vorzulegen oder zur Durchsicht auf einem Bildschirm in barrierefreier Form anzuzeigen. Ist der Inhalt des Protokolls nur vorläufig aufgezeichnet worden, so genügt es, wenn die Aufzeichnungen vorgelesen oder abgespielt werden. In dem Protokoll ist zu vermerken, dass dies geschehen und die Genehmigung erteilt ist oder welche Einwendungen erhoben worden sind.

§ 411 ZPO

Neu (3): Das Gericht kann das Erscheinen des Sachverständigen zur Erläuterung des schriftlichen Gutachtens, eine schriftliche Erläuterung oder eine Ergänzung des Gutachtens anordnen. Das Erscheinen kann auch als Teilnahme per Bild- und Tonübertragung nach § 128a angeordnet werden. Dabei ist sicherzustellen, dass die Übertragung in barrierefreier Form erfolgt, wenn dies für das Verständnis eines der Verfahrensbeteiligten erforderlich ist.

§ 802f ZPO

Neu (1) - (8): ...

(9) Findet der Termin zur Abnahme der Vermögensauskunft per Bild- und Tonübertragung statt, finden insoweit die Vorgaben nach der Barrierefreien-Informationstechnik-Verordnung entsprechend Anwendung.

Artikel 5 - Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit

§ 30 FamFG

Neu (5): ...

Die Bild- und Tonübertragung erfolgt in barrierefreier Form.

Artikel 7 - Änderung des Sozialgerichtsgesetzes

§ 110a SGG

Neu (1) - (6): ...

(7) Findet die mündliche Verhandlung als Videoverhandlung statt oder wird einem Zeugen oder einem Sachverständigen die Teilnahme per Bild- und Tonübertragung gestattet, hat das Gericht dafür zu sorgen, dass diese Übertragungsform in barrierefreier Weise stattfindet.

 

 

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