Stellungnahme zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes (BT-Drucksache 20/3877) - Anhörung im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 19.10.2022 -

Mit Beschluss vom 16.12.2021 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass der Gesetzgeber Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz verletzt hat, weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird.

Als Dachverband von 123 Bundesverbänden der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen und deren Angehörigen sowie von 12 Landesarbeitsgemeinschaften begrüßt es die BAG SELBSTHILFE, dass mit der geplanten Änderung des Infektionsschutzgesetzes nun eine rechtsverbindliche Regelung für Zuteilungsentscheidungen bei pandemiebedingt nicht ausreichender intensivmedizinischer Behandlungskapazität geschaffen wird. Besonders erfreulich ist aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE, dass die Einbeziehung von Menschen mit Fachexpertise mit den besonderen Belangen nun zwingend vorgeschrieben ist und hiervon nicht – wie damals im Referentenentwurf vorgesehen – aus Gründen der Dringlichkeit der Behandlung abgewichen werden kann; die BAG SELBSTHILFE hatte damals darauf hingewiesen, dass es Voraussetzung für eine Triage-Situation ist, dass eine entsprechende Dringlichkeit der Behandlung vorliegt und dass deswegen die Regelung in der Praxis faktisch leerlaufen dürfte.

Insgesamt ist es aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE entscheidend, dass einerseits Verfahrenserfordernisse für Zuteilungsentscheidungen im Falle pandemiebedingter, nicht ausreichender und überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten festgelegt werden und dass andererseits auch Kriterien materieller Natur für die Allokationsentscheidung festlegt werden. Nur durch die Normierung beider Aspekte kann Rechtssicherheit geschaffen und einer Diskriminierung entgegengewirkt werden.

Legt man diese Maßgabe zugrunde, ist der vorliegende Entwurf aus Sicht der BAG SELBSTHILFE noch in mancherlei Hinsicht verbesserungsbedürftig, da weitergehende Maßnahmen erforderlich sind, um einen wirksamen Diskriminierungsschutz zu gewährleisten.

Im Einzelnen ist zu dem vorliegenden Gesetzentwurf folgendes auszuführen:

1) Abdeckung notwendiger Aus- und Fortbildungsbedarfe

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 16. Dezember 2021 (1 BvR 1541/20) festgestellt, dass sich die Risiken einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderung im Fall nicht ausreichender intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten unter anderem aufgrund von mangelndem Fachwissen, einer unzureichenden Sensibilisierung für behinderungsspezifische Besonderheiten, aber auch aufgrund subjektiver Momente ergeben können.

Um einen umfassenden Diskriminierungsschutz zu gewährleisten und die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Schutzpflicht zu erfüllen, bedarf es aus Sicht der BAG SELBSTHILFE konkreter Regelungen zur Aus- und Fortbildung von Behandler:innen, die über die im aktuellen Entwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vorgesehenen hinaus gehen. Der Gesetzesentwurf sieht keine spezifischen Vorgaben zur Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege vor, insbesondere keine des intensivmedizinischen Personals. Allein durch die Vorgaben, die der Gesetzesentwurf für den Fall einer Zuteilungsentscheidung macht, kann dem defizitorientierten medizinischen Blick auf Behinderung nicht entgegengewirkt werden. Soweit ausgeführt wird, dass begleitend zu diesem Gesetzesentwurf „zeitnah die Approbationsordnung für Ärzte um Inhalte zu behinderungsspezifischen Besonderheiten “ ergänzt werden soll und „mit der Bundesärztekammer erörtert werden soll, wie die Vorgehensweise bei nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten insbesondere in Fort- und Weiterbildungen zeitnah vermittelt werden kann“, hält die BAG SELBSTHILFE eindeutige und verpflichtende Vorgaben bereits im jetzigen Gesetz für erforderlich; zumindest eine Roadmap sollte erstellt werden, die die Umsetzung – unter Einbeziehung der Betroffenenverbände - im Einzelnen festlegt.

Es gilt, das menschenrechtliche Verständnis von Behinderung gerade auch im Gesundheitswesen zu verankern. Hierfür sind konkrete und verbindliche Vorgaben zur ärztlichen und pflegerischen Aus- und Fortbildung im Bereich der behinderungsspezifischen Besonderheiten unbedingt notwendig. Die Vermittlung von behinderungsspezifischen Fachkenntnissen zu Krankheiten und Risiken, der Abbau stereotypisierender Sichtweisen, eine barrierefreie Kommunikation, die Sensibilisierung für Diskriminierungsrisiken und der Abbau von Unsicherheiten und Vorurteilen im Umgang mit Menschen mit Behinderung – diese Themen sollten grundsätzlich im Fokus der Aus- und Weiterbildung stehen und sich auf alle im Gesundheitssystem Tätigen erstrecken. Im Kontext des vorliegenden Gesetzesentwurfes sollten sich diese Vorgaben auf die Akteure der Notfall- und Intensivmedizin konzentrieren.

In einem zweiten Schritt ist es unerlässlich, entsprechende Vorgaben auch systematisch verpflichtend im gesamten Gesundheitssystem zu implementieren.

2) Regelungen zu den materiellen Kriterien der Zuteilungsentscheidung (§ 5c InfSchG-GesE)

§ 5c Abs. 2 des vorliegenden Gesetzentwurfs regelt die materiellen Maßstäbe der Zuteilungsentscheidung. Danach darf die Entscheidung über die Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten nur unter Berücksichtigung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patient:innen getroffen werden. Komorbiditäten dürfen nur berücksichtigt werden, soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination, die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern. Keine geeigneten Kriterien zur Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit sollen insbesondere eine Behinderung, das Alter, die verbleibende mittel- oder langfristige Lebenserwartung, die Gebrechlichkeit und die Lebensqualität sein.

§ 5c Abs. 2 des Gesetzentwurfs regelt somit positive (klinische Erfolgsaussicht) und negative (Behinderung, Alter, verbleibende mittel- oder langfristige Lebenserwartung, Gebrechlichkeit und die Lebensqualität) materielle Kriterien, die bei der Zuteilungsentscheidung zu berücksichtigen sind.

Auch wenn die BAG SELBSTHILFE diese Maßgaben im Grundsatz sehr begrüßt und die stringentere Fassung des § 5c Abs. 2 S. 3 gegenüber dem Referentenentwurf für sinnvoll hält, sind die im Gesetzesentwurf vorgesehenen materiellen Kriterien aus Sicht der BAG SELBSTHILFE jedoch an einigen Stellen nicht deutlich genug formuliert, um diskriminierungsfreie Zuteilungsentscheidungen zu gewährleisten.

a. Berücksichtigung von Komorbiditäten

Nach wie vor besteht aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE die Gefahr, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit nicht eindeutig nur auf die aktuelle Krankheit bezogen wird, sondern dass eine Behinderung pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden wird.

§ 5c Abs. 2 S. 2 des Gesetzentwurfs regelt die Berücksichtigung von Komorbiditäten bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit. Komorbiditäten dürfen dann bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit berücksichtigt werden, soweit sie in ihrer Schwere und Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern. Unklar bleibt an dieser Stelle, wie eine Abgrenzung der Komorbiditäten (die berücksichtigt werden können, wenn sie die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit beeinflussen) und der Behinderung (die nicht berücksichtigt werden darf) gelingen soll. Auch die Begründung des Gesetzesentwurfs verhält sich hierzu nicht. Diese Unklarheit wird im Entscheidungsprozess des intensivmedizinischen Personals, das in dieser Situation ohnehin unter hohem Druck steht, Unsicherheiten hervorrufen. Es besteht die Gefahr, dass Behinderungen an dieser Stelle pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht werden und die entscheidenden Intensivmediziner:innen generell von einer schlechteren Genesungschance ausgehen.

b. Regelung der Dringlichkeit der Behandlung

Aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE fehlt es noch an einer gesetzlichen Normierung des Begriffs der Dringlichkeit der Zuteilungsentscheidung, die bisher nur in der Gesetzesbegründung enthalten ist und auch hier nicht explizit („Akutsituation“): Erst wenn die Dringlichkeit der intensivmedizinischen Behandlungsbedürftigkeit ärztlicherseits festgestellt worden ist, soll die Zuteilungsentscheidung überhaupt ergehen können. Warum dieses Kriterium der Zuteilungsentscheidung nicht in die gesetzliche Regelung selbst aufgenommen wurde, erschließt sich der BAG SELBSTHILFE nicht. Andernfalls besteht aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE die Gefahr, dass die Zuteilungsentscheidung zuungunsten von Personen mit zwar dringendem intensivmedizinischen Behandlungsbedarf, aber mittlerer Überlebenswahrscheinlichkeit ausfällt, weil gleichzeitig eine Person mit hoher Überlebenswahrscheinlichkeit und weniger dringendem Behandlungsbedarf in die konkrete Zuteilungsentscheidung einbezogen würde. Die Person mit hoher Überlebenswahrscheinlichkeit würde, ohne Einbeziehung der Dringlichkeit als Kriterium, auch dann sofort behandelt werden, wenn ein Zuwarten die Überlebenswahrscheinlichkeit zwar verringert, aber nicht ausschließt. Die Person mit dringendem Behandlungsbedarf würde ohne sofortige Behandlung versterben.

Auch wenn sich die Beachtung der Dringlichkeit bereits aus § 34 StGB ergeben dürfte, hält die BAG SELBSTHILFE es für dringend erforderlich, eine klarstellende Regelung im geplanten § 5c IfSG aufzunehmen – analog zu § 12 Abs. 3 Transplantationsgesetz, der für die Organzuteilung zum einen auf die Erfolgsaussicht als auch auf die Dringlichkeit abstellt. Gerade Menschen mit Behinderung werden ohne Beachtung der Dringlichkeit der intensivmedizinischen Behandlung das Nachsehen gegenüber Menschen ohne Behinderung mit hoher Überlebenswahrscheinlichkeit haben.

c. Ausschöpfung aller regionalen und überregionalen Behandlungskapazitäten

Zu Recht verweist der Bundesrat darauf, dass die Ausschöpfung aller regional und überregional verfügbaren Behandlungskapazitäten entscheidendes Kriterium für das Vorliegen einer Triage-Situation sein muss; nach dem Wesentlichkeitsgrundsatz bedarf sie einer gesetzlichen Regelung und nicht nur – wie im Entwurf enthalten – eine Erläuterung in der Gesetzesbegründung. Die BAG SELBSTHILFE unterstützt insoweit nachdrücklich den vom Bundesrat übermittelten Gesetzesvorschlag.

d. Normierung des Maximierungsverbotes

Die Regelung in § 5c Abs. 2 des Gesetzentwurfs verhält sich nicht dazu, ob die Rettung möglichst vieler Menschenleben ein zulässiges Kriterium im Rahmen der Zuteilungsentscheidung ist (Maximierungsverbot). Angesichts der Schwere der Konfliktsituation und ihrer Folgen kann nicht ausgeschlossen werden, dass im Entscheidungsprozess – möglicherweise auch unbewusst – das Kriterium der Rettung möglichst vieler Menschenleben herangezogen wird. Dies gilt es unbedingt zu verhindern. Andernfalls würde die Entscheidung überproportional oft zu Lasten von Menschen mit Beeinträchtigung gehen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit auf eine intensivere und längere intensivmedizinische Behandlung angewiesen sind. Ein Maximierungsgebot als Kriterium der Zuteilungsentscheidung führt zu einer Abwägung von Leben gegen Leben. Jede qualitative und quantitative Abwägung von Leben gegen Leben verstößt gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes.

e. Ausschluss der Ex-Post-Triage

Die Klarstellung, dass bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten von der Zuteilungsentscheidung ausgenommen sind, wird von der BAG SELBSTHILFE ausdrücklich begrüßt.

Denn eine Zulassung der Ex-Post-Triage würde eine Maßnahme legitimieren, die bisher von der herrschenden Rechtsmeinung als Totschlag gewertet wurde; denn wenn man die Abnahme von der Beatmung als Tun und nicht als Unterlassen wertet, dann fehlt es an einer rechtfertigenden Pflichtenkollision, die die Strafbarkeit der Ex-Post Triage über einen Rechtfertigungsgrund ausschließen würde.[1]

Zudem sind Angehörigen bei einer Ex-Post-Triage der ständigen Sorge ausgesetzt, dass ein anderer Betroffener eintrifft und ihr Angehöriger von der Beatmung entfernt wird. So gehen Teile der Literatur davon aus, dass Menschen, bei denen die Beatmung eingeleitet wurde, eine Rechtsposition wegen schutzwürdigen Vertrauens erhalten haben; dies führt dazu, dass auch dann, wenn das Handeln des Arztes als Unterlassen zu qualifizieren ist, eine Rechtfertigung nicht erfolgen kann und der Arzt sich strafbar macht.[2]

Hinzu kommt, dass es bei einer derart unkalkulierbaren Erkrankung wie Covid-19 kaum möglich ist, saubere Prognosen über den weiteren Verlauf der Erkrankung zu treffen, also die Erfolgsaussichten der jeweiligen Beatmungen gegeneinander abzuwägen.

f. Notwendigkeit von Konzepten zur Verhinderung von Triage-Situationen

Jenseits der konkreten Ausgestaltung der materiellen Regelungen zu den Zuteilungsentscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht aber auch – sowohl in der Triage- Entscheidung aber noch klarer in der sog. Entscheidung zur sog. einrichtungsbezogenen Impfpflicht – festgelegt, dass es eine Schutzpflicht des Staates gegenüber vulnerablen Personengruppen gibt, die den Staat auch zu konkreten Schutzmaßnahmen verpflichten kann.

Insoweit begrüßt die BAG SELBSTHILFE zwar, dass der Gesetzgeber mit dem Covid-19 Schutzgesetz erste Maßnahmen für eine Verhinderung von Triage-Situationen eingeleitet hat, wie etwa Maskenpflichten im Fernverkehr. Wie die derzeit sehr dynamische Entwicklung zeigt, reichen diese Maßnahmen jedoch nicht aus. Angesichts der sehr schnellen Ausbreitung und auch dem sehr schnellen „Durchschlagen“ auf die Normalstationen und Intensivstationen der Krankenhäuser bei gleichzeitigen Personalengpässen wäre eine allgemeine bundesweite Maskenpflicht in Innenräumen dringend angezeigt, flankiert durch Testpflichten, wo dies nicht umsetzbar ist.

Aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE lässt sich eine solche Pflicht zum Schutz vulnerabler Gruppen aus der Rechtsprechung herleiten. Sie sollte daher auch im Gesetz entsprechend als Verpflichtung dargestellt werden; dies ist aus unserer Sicht noch nicht hinreichend der Fall. Zwar ist in der Gesetzesbegründung zu § 5c dargestellt, welche Voraussetzungen zur Feststellung des Merkmals der „nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten“ vorliegen müssen und wie diese organisatorisch vermieden werden können (z.B. Kleeblattverlegungen).

Es wird den Krankenhäusern aber nicht unmittelbar auferlegt, solche Konzepte jeweils zu entwickeln und diese Anstrengungen im Triage-Fall jeweils auch nachzuweisen. Lediglich Verfahrensregelungen für die konkrete Ausgestaltung der Triage-Situation nach § 5c Abs. 4 und 5 InfSchG müssen Krankenhäuser nachweisen, nicht die deutlich früher ansetzenden Maßnahmen zur Verhinderung einer solchen Situation.

Hier muss der vorliegende Gesetzentwurf dringend nachgebessert werden.

Denn die deutlich früher ansetzenden Maßnahmen der gesetzlichen Festlegung von bundesweiten Maskenpflichten in Innenräumen, Hygienekonzepten und Testpflichten müssen nach Auffassung der BAG SELBSTHILFE Teil der Verpflichtung des Staates zum Schutz von vulnerablen Personengruppen sein.

Vor diesem Hintergrund hält die BAG SELBSTHILFE es für wichtig, dass im Gesetz selbst klargestellt wird, dass die Grundrechte der vulnerablen Personen auch die Einleitung von Maßnahmen gebieten können, die wiederum dann - in eher überschaubarem Ausmaß - in die Grundrechte anderer eingreifen. Denn in der politischen und medialen Diskussion stehen vor allem die Grundrechtseinschränkungen der Menschen durch Maskentragen, Abstandspflichten etc. im Fokus, wohingegen das Bundesverfassungsgericht in beiden erwähnten Entscheidungen die Güterabwägung zugunsten der Grundrechte von vulnerablen Personengruppen entschieden hatte- und zwar bei der einrichtungsbezogenem Impfpflicht in Bezug auf eine Pflicht zur Impfung, die sicherlich einen weitergehenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit als die Verpflichtung zum Maskentragen beinhaltet. Auch der Sachverständigenausschuss zur Evaluation hat diesen falschen Schwerpunkt aus Sicht der BAGS SELBSTHILFE gesetzt: Auf Seite 72 werden in Punkt 6.2 Maßnahmen zum Schutz vulnerabler Gruppen angekündigt, unter dem angekündigten Punkt auf Seite 103[3] findet sich dann der etwas wolkige Titel Maßnahmen zur Abfederung unerwünschter Wirkungen: Individuen, Gesellschaft und Wirtschaft“; in dem Kapitel werden zunächst die möglichen negativen Wirkungen der Schulschließungen auf Jugendliche aufarbeitet, um dann bzgl. sozial benachteiligter Gruppen zu fordern, dass diese nicht aus dem Blick geraten sollten. Diskussionen um Schutzmaßnahmen für Menschen mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen und Pflegebedarf kommen praktisch nicht vor (mit Ausnahme der Bereitstellung von Masken für sozial Schwache), obwohl sie nach wie vor das höchste Risiko haben, an einer Covid-Erkrankung zu sterben – auch mit Impfung. Dies gilt vor allem für Menschen mit Immunsuppression, Immunschwäche oder Krebserkrankungen, bei denen die Impfung kaum oder in geringerem Umfang wirkt.

Aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE ist dies der falsche Ansatz. Neben einer allgemeinen Strategie zur Verhinderung der Ausbreitung der Pandemie, etwa durch eine allgemeine Verpflichtung zum Tragen von Masken in Innenräumen, müssen darüber hinaus auch noch spezifische Schutzmaßnahmen für besonders vulnerable Personengruppen bestehen, also die Sicherstellung kostenfreier (PCR- und Antigen) Tests sowohl in Arztpraxen als auch in Testzentren für vulnerable symptomatische und asymptomatische Personengruppen und der schnelle Zugang zu Antikörpertherapien / Paxlovid / Molnupiravir. Insgesamt stellen damit die Bereitstellung einer hinreichenden Teststrategie, das Vorsehen von allgemeinen Maskenpflichten und die Bereitstellung von zeitnah erforderlichen Therapien notwendige Vorkehrungen für die Verhinderung von Triage-Situationen dar, die das Bundesverfassungsgericht nach Auffassung der BAG SELBSTHILFE zwar nicht spezifisch, aber als Teil einer Gesamtstrategie eingefordert hat.

g. Verfahrensregelungen

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt, dass im Entwurf verschiedene Verfahrensregelungen vorgesehen sind, die helfen sollen, Stereotypisierungen zu vermeiden.

   a. Zuteilungsentscheidung durch mindestens zwei qualifizierte Fachärzte

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt es, dass die Zuteilungsentscheidung von mindestens zwei qualifizierten Fachärzt:innen, von denen eine(r) nicht an der Behandlung beteiligt ist, getroffen wird und die Begutachtung der betroffenen Patient:innen unabhängig voneinander erfolgen muss. Eine solche Regelung ist eine Möglichkeit, einer unbewussten Stereotypisierung von körperlich oder geistig beeinträchtigten Menschen entgegenzuwirken. Die Möglichkeit der telemedizinischen Konsultation ist aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ausreichend und trägt dazu bei, dass es in dieser zeitkritischen Entscheidungssituation nicht zu Personalengpässen kommt.

   b. Hinzuziehung einer Person mit besonderer Fachexpertise

Ausdrücklich begrüßt wird vor allem die Hinzuziehung einer Person mit entsprechender Fachexpertise für die Behinderung oder die Vorerkrankung, soweit Menschen mit Behinderung oder Vorerkrankung von der Zuteilungsentscheidung betroffen sind. Hinsichtlich der sog. „Fachexpertise“ halten wir eine konkrete und detaillierte Auflistung der Anforderungen im Sinne einer Positivliste – nach Möglichkeit bereits im Gesetzestext - für erforderlich. Hier sollte positiv formuliert werden, welche (Fach-) Ärzte und Ärztinnen einbezogen werden können, dass die Hinzuziehung von Mitgliedern klinischer Ethik-Komitees ebenso wie die Einbeziehung von Pflegefachkräften, persönlichen Vertrauenspersonen oder (fachlichen) Experten aus Selbsthilfeorganisationen möglich ist.

Wie bereits eingangs dargestellt, begrüßt es die BAG SELBSTHILFE sehr, dass die noch im Referentenentwurf enthaltene Regelung einer Möglichkeit eines Verzichtes wegen Dringlichkeit gestrichen wurde; die BAG SELBSTHILFE hatte hier die große Gefahr gesehen, dass mit einer solchen Regelung die Maßgabe der Einbeziehung von Menschen mit Fachexpertise für die Behinderung oder Vorerkrankung faktisch leerläuft und in der Praxis nicht stattfindet. Daher wird es sehr begrüßt, dass diese Regelung gestrichen wurde.

   c. Laufende Beobachtung der Verfügbarkeit weiterer Behandlungsmöglichkeiten und der Prognose

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE fehlt im Gesetzentwurf auch die Maßgabe, dass während des Verfahrens zur Herbeiführung der Zuteilungsentscheidung regelmäßige Überprüfungen in Bezug auf Änderungen der Prognose, der Verfügbarkeit weiterer und neuer Behandlungsmöglichkeiten und der Verfügbarkeit von Ressourcen stattzufinden haben. Es muss insbesondere klargestellt werden, dass Verlegungen nicht aus Kostengründen im Abwägungsprozess ausgeschlossen werden dürfen.

h. Dokumentationspflichten (§ 5c Abs. 4 und 5 InfSchG)

Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Dokumentationspflichten werden von der BAG SELBSTHILFE begrüßt. Sie können dazu beitragen, dass die beteiligten Ärzte sorgsamer mit der Situation umgehen und auf bewusste oder unbewusste Stereotypisierungen verzichten, da diese zur Dokumentation nicht geeignet sind. Allerdings sollte die Dokumentationspflicht auch die Darlegung aller Maßnahmen umfassen, die der Verhinderung der Triagesituation dienten und die Darlegung der Gründe, warum es gleichwohl zu einer Zuteilungssituation gekommen ist.

Gleichwohl fehlen diesem Instrument noch Sanktionsmöglichkeiten, die die Dokumentation dann auch absichern helfen, etwa die Klarstellung, dass die Dokumentation im Arzthaftungsprozess nicht nachgebessert werden kann.

i. Verfahrensregelungen gegen die „vorbeugende“ Triage in Pflegeheimen

Zu Recht hat ein Brief des Landratsamtes Tuttlingen[4] an Einrichtungen der Langzeitpflege und der Behindertenhilfe Wellen geschlagen, da hier – mit langen

Ausführungen zu geringen Erfolgsaussichten invasiver Beatmung bei Älteren – dazu aufgefordert wurde, angesichts dessen sich über die Erstellung Patientenverfügung Gedanken zu machen und sich Krankenhausaufenthalte für die Bewohner sorgsam zu überlegen. Von vielen Einrichtungen und Betroffenen wurde dies zu Recht als Ausübung von Diskriminierung gewertet; vor diesem Hintergrund fordert die BAG SELBSTHILFE eine klarstellende Regelung, wonach ein solches Ausüben von Druck, eine Patientenverfügung zu erstellen, seitens der Leistungserbringer nicht zulässig ist und strafbewehrt sein sollte.

j. Erfordernis einer barrierefreien Aufklärung und barrierefreie Informationsmaterialien

Die BAG SELBSTHILFE hält es für dringend erforderlich, dass die Aufklärung über die intensivmedizinische Behandlung barrierefrei erfolgt, die Krankenhäuser dafür die entsprechenden Möglichkeiten einer barrierefreien Kommunikation vorhalten (z.B. eine Liste von Gebärdendolmetschern) und barrierefreie Informationsmaterialien bereitstellen. Denn die medizinischen Entscheidungen – auch im Zusammenhang mit einer Triage-Situation – müssen mit den Betroffenen getroffen werden und nicht über ihren Kopf hinweg mit Angehörigen. Letzteres findet in der Praxis leider nach wie vor noch zu häufig statt. Zwar ist das Erfordernis einer barrierefreien Kommunikation in der Gesetzesbegründung erwähnt, aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE sollten die entsprechenden Maßgaben jedoch im Gesetz spezifisch geregelt werden.


[1] Siehe etwa Jansen, Pflichtenkollision bei Triage-Entscheidungen, zit: https://www.zis-online.com/dat/artikel/2021_3_1422.pdf  Dieses Dokument in neuem Tab öffnen und vorlesen  „Bei der Ex-Post-Triage ist der Arzt nie gerechtfertigt. Wenn er aktiv handelt, scheitert eine Rechtfertigung kraft Pflichtenkollision daran, dass diese bei einer Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht nicht anwendbar ist. Auch das Nicht-Fortführen einer bereits begonnenen Behandlung durch Unterlassen kann nicht durch Pflichtenkollision legitimiert werden, da der bereits behandelte Patient eine Rechtsposition erlangt hat, die dazu führt, dass die Handlungspflichten nicht gleichwertig sind.“

[2] Dabei wird von Jansen a.a.O. davon ausgegangen, dass der Patient durch die Behandlung eine Rechtsposition wegen schutzwürdigen Vertrauens erhalten hat: „Für eine solche Rechtsposition spricht, dass durch die begonnene Behandlung ein schutzwürdiges Vertrauen entstanden ist: Der Patient, der das Behandlungsgerät erhält, sowie seine Angehörigen werden daraufhin nicht nach anderen Krankenhäusern mit mehr Ressourcen Ausschau halten, sondern sich darauf verlassen, dass die Behandlung fortgeführt wird.“ Diesen Aspekt spricht auch der Bundesrat an, dessen Position ansonsten an dieser Stelle von der BAG SELBSTHILFE nicht gefolgt wird

[3] Im Rahmen der vorherigen Kapitel wurde vom Sachverständigenausschuss zwar die Effektivität der einzelnen Maßnahmen diskutiert, allerdings folgten daraus nur wenig Empfehlungen zum Schutz vulnerabler Personengruppen.

[4] www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/umstrittener-rundbrief-an-pflege-und-behinderten-heime-in-tuttlingen-100.html

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