Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP Entwurf eines Gesetzes zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstabilisierungsgesetz – GKVFinStG) (BT-Drucksache 20/3448)

Als Dachverband von 123 Bundesorganisationen der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen und von 12 Landesarbeitsgemeinschaften begrüßt es die BAG SELBSTHILFE sehr, dass es keine direkten Leistungseinschränkungen für Patientinnen und Patienten geben soll. Bereits jetzt sind diese Menschen über-proportional von der Inflation, den steigenden Energiepreisen und den fortwährenden Herausforderungen durch die Pandemie betroffen. Denn Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen gehören traditionell im Schnitt nicht zu den einkommensstärksten Gruppen in der Bevölkerung, sie beziehen oft Erwerbsunfähigkeitsrente.

Derzeit sind sie nicht nur mit gedeckelten Zuzahlungen innerhalb der Chroniker Regelung belastet, sondern viele zusätzliche Kosten unterfallen eben leider nicht dieser Regelung: Wirtschaftliche Aufzahlungen etwa bei Arznei- und Hilfsmitteln, die eben leider nicht immer vermeidbar sind- wie man im Inkontinenzbereich leider sieht; nichtverschreibungspflichtige Medikamente, die nicht der OTC-Liste unterfallen und Eigenanteile. Hinzu kommt, dass Menschen mit Immunschwächen nach wie vor deutlich höhere Beträge für Masken und Hygieneartikel aufwenden müssen, da bei Ihnen die Impfung leider nicht unbedingt vor schweren Verläufen schützt und sie deswegen selbst Vorsorge treiben müssen. Die Pauschale für diese Hilfsmittel reicht zumeist nicht aus, zumal diese wieder auf 40 € abgesenkt wurde. Soweit Menschen Leistungen der ambulanten Pflege benötigen, sind sie ebenso von erhöhten Kosten auf Seiten der Leistungserbringer betroffen, können also weniger Leistungen abrufen oder müssen höhere Eigenanteile leisten. Vor diesem Hintergrund geht die Bundesregierung aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE zu Recht davon aus, dass hier eine zusätzliche Belastung der Patientinnen und Patienten durch Leistungsausgrenzungen nicht zumutbar ist, da sie ohnehin schon durch Krankheitskosten, Energiekrise und Inflation hoch belastet sind.

Auch vor diesem Hintergrund hält es die BAG SELBSTHILFE aber für schwierig, dass die Finanzschwierigkeiten der GKV überwiegend durch Beitragserhöhungen gelöst werden sollen, also von Versicherten und Arbeitgebern über eine Erhöhung des Beitragssatzes i.H.v. voraussichtlich 0,3 Prozent. Zwar sieht die BAG SELBSTHILFE ebenfalls die Notwendigkeit einer Erhöhung auf der Einnahmeseite der GKV-Finanzen; dies kann aber ihrer Auffassung nicht im Wesentlichen zu Lasten der Versicherten gehen, die ja durch Inflation und Energiekrise bereits enorm belastet sind.

Auch dürften etwa die zusätzlichen Maßnahmen, wie Darlehen und die Abschmelzung der Reserven der Krankenkassen die grundsätzlich bestehenden Probleme der gesetzlichen Krankenkassen nicht nachhaltig lösen. Vor diesem Hintergrund hält sie es für dringend erforderlich, den im Koalitionsvertrag vorgesehenen Ausgleich der unzureichenden Beiträge der ALG II Bezieher nun schnellstmöglich umzusetzen. Die dadurch zu gewinnenden 10 Milliarden sind aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE dringend notwendig zur Sicherstellung der finanziellen Grundlagen der gesetzlichen Krankenkassen und Minimierung der Lasten für Patient*innen und Versicherte. Zudem sollte auch - wie es der Antrag der Fraktion DIE LINKE fordert - eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze vorgesehen werden, damit höhere Einkommen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zur Lösung der Finanzprobleme herangezogen werden; auch die Einbeziehung anderer Einkommensarten wie etwa Einkommen aus Miete und Verpachtung sollte geprüft werden.

Schließlich ist es nicht nachvollziehbar, weswegen grundlegend lebensnotwendige Medikamente mit einem Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent belegt sind; sie sollten ebenso wie etwa Brot oder Butter dem reduzierten Satz von 7 Prozent unterliegen, wie es auch der Antrag der Fraktion DIE LINKE zu Recht fordert. Auch dies würde die gesetzlichen Krankenkassen um rund 6 Milliarden entlasten.

Allerdings sieht die BAG SELBSTHILFE auch auf der Ausgabenseite Probleme:

1. Neupatientenregelung: Abschaffung der extrabudgetären Erstattung bei der Aufnahme von Neupatient*innen (§ 87a Abs. 3 SGB V GesE)

In der BAG SELBSTHILFE wird mit Sorge diskutiert, dass die vorgesehenen Maßnahmen zum Abbau der Neupatientenregelung mittelbar negative Auswirkungen auf Patientinnen und Patienten haben könnten, auch wenn es aus ihrer Sicht unklar ist, ob es durchschlagende Verbesserungen durch die Neuregelungen im TSVG hinsichtlich der Verfügbarkeit von Arztterminen gab; nach Berichten aus den Verbänden hat sich die Situation der Patient*innen wohl eher durch die Erweiterung der Regelungen bzgl. der Terminservicestellen verbessert, da die Patient*innen hier tatsächlich die Chance erhielten, einen Termin zu vereinbaren. Allerdings gibt es bestimmte Indikationen, bei denen – wegen des Fehlens der jeweiligen Facharztgruppen – Wartezeiten von 6-9 Monaten Standard sind und in Einzelfällen bis zu einem Jahr betragen können; dies betrifft etwa Menschen mit einer entzündlichen rheumatischen Erkrankung. Hinzu kommt, dass dort für einen Erstkontakt wegen der ausführlichen Untersuchung ca. 45 Minuten veranschlagt werden müssen; hier wird seitens der Verbände befürchtet, dass sich die Versorgung durch die Abschaffung der extrabudgetären Erstattung bei Neupatienten noch stärker verschlechtern wird. Insoweit wird angeregt, die extrabudgetäre Versorgung in den Bereichen aufrechtzuerhalten, in denen nachgewiesenermaßen eine besonders hohe Diskrepanz zwischen Bedarf und Versorgungsangeboten herrscht.

Jenseits dessen sollte bei einer Abschaffung der extrabudgetären Versorgung auch darauf geachtet werden, dass Patient*innen wissen, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen einen Sicherstellungsauftrag haben und hier tätig werden müssen. Denn andernfalls werden in der Praxis nur sehr gut informierte Patient*innen in bestimmten Bereichen noch einen Arzttermin als Neupatient bekommen.

 2. Reform des AMNOG-Verfahrens (§§ 35a, 130b SGB V GesE)

Grundsätzlich sieht die BAG SELBSTHILFE - wie auch die Bundesregierung – in Zeiten eingeschränkter Mittel die Notwendigkeit, Maßnahmen zu ergreifen, um überhöhte Preise bei Arzneimitteln zu verhindern.

Dass künftig nur noch für Arzneimittel mit einer Bewertung des Zusatznutzens in den Kategorien, „beträchtlich“ und „erheblich“ ein höherer Preis gegenüber der Zweckmäßigen Vergleichstherapie verhandelt werden darf, ist jedoch aus ihrer Sicht für Arzneimittel für seltene Erkrankungen nicht sachgerecht. Ein formal fehlender Zusatznutzen bedeutet nicht, dass das Arzneimittel keinen Nutzen für Patienten haben kann, sondern nur, dass man es im regulären Nutzenbewertungsverfahren nicht zeigen konnte. Etwa bei Mukoviszidose erreichten die neu zugelassenen Medikamente zuletzt nur für die häufigen Mutationen einen beträchtlichen oder erheblichen Zusatznutzen. Dabei wirken diese Medikamente bei Menschen mit selteneren Mutationen nicht unbedingt schlechter - es können aufgrund der kleinen Sub-Patientengruppe nur nicht die geforderten Daten vorgelegt werden. Es handelt sich also um ein hauptsächlich methodisches Problem, dem mit zusätzlicher Flexibilität in der Methodik und Preisverhandlung begegnet werden müsste, nicht mit noch engeren und strikteren Rahmenbedingungen, wie sie im Gesetzentwurf vorgesehen sind. Für die Patienten könnten die „Leitplanken“ ganz konkret bedeuten, dass ihnen der Zugang zu einem Medikament verwehrt bleibt, das spürbar positivere Effekte auf den Gesundheitszustand hat als die bislang zugelassenen vergleichbaren Therapien.

Auch gäbe es aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE andere Möglichkeiten der Regulierung, die die Versorgungssicherheit nicht gefährden würden als die aktuell geplanten Maßnahmen. Insbesondere ergibt sich ein fehlender, nicht-quantifizierbarer oder auch geringer Zusatznutzen gerade bei seltenen Erkrankungen - wie der Mukoviszidose - oft aufgrund unzureichender Datenlage. Vor diesem Hintergrund sollten die Möglichkeiten von anwendungsbegleitenden Datenerhebungen und Nutzung von Daten aus dem Versorgungsalltag z.B. mittels indikationsspezifischer Register genutzt bzw. weiter auszubaut werden wie es u.a. auch die AWMF in ihrer Stellungnahme vorschlägt. Auch eine Befristung der Nutzenbeschlüsse könnte in diesem Zusammenhang ein geeignetes Instrument sein. So würden u.E. gerade bei seltenen Erkrankungen eine realistischere Einschätzung des Nutzens und dadurch zielgerichtetere Arzneimittelausgaben erreicht werden.

Auch die hauptamtlichen unparteiischen Mitglieder des G-BA äußern in einer Stellungnahme zum GKV-FinStG systematische und rechtliche Bedenken, die Verhandlung höherer Erstattungsbeträge bei Wirkstoffen mit geringem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen explizit auszuschließen. Sie regen an, Ausnahmen von den zwingenden Vorgaben für die Erstattungsbetragsverhandlungen zu ermöglichen.

Hinzu kommt, dass für die zukünftige Entwicklung innovativer Medikamente der Anreiz verloren gehen könnte und für die Patienten dringend benötigte neue Arzneimittel in Zukunft fehlen, wie auch die AWMF in ihrer Stellungnahme bemerkt.

Zusammenfassend spricht sich die BAG SELBSTHILFE dafür aus, den bisherigen Rahmen für die Erstattungsbetragsverhandlungen beizubehalten und statt einer Streichung der Preisverhandlungen für bestimmte Bewertungen flexible Regelungen für die Nutzenbewertung insbesondere für kleine Patientengruppen zu schaffen.

Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Preisverhandlungen - jenseits der AMNOG-Bewertungen - auch ein flexibles Instrument sind, um bspw. Mengenvereinbarungen zwischen Unternehmen und GKV-Spitzenverband zu ermöglichen. Die geringe Zahl der Schiedsstellenverhandlungen zeigt, dass dieses Instrument auch und gerade bei Präparaten mit geringem Zusatznutzen gut funktioniert.

Bzgl. der Umsatzschwelle findet es die BAG SELBSTHILFE grundsätzlich gut, dass die Evidenzlage zu allen Präparaten jeweils in den Blick genommen wird, weshalb sie nachvollziehen kann, dass die Bundesregierung im Hinblick auf die Orphan Drugs über eine Reduzierung der Umsatzschwelle nachdenkt. Konkret befürchtet die BAG SELBSTHILFE aber, dass ein solcher Schritt die durchaus ja auch von der Bundesregierung gewollte Förderung von Orphan Drugs konterkarieren würde. Aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE wird aber eine Orphan Drug – Förderung für notwendig gehalten, um die Versorgungssituation von Menschen mit Seltenen Erkrankungen zu verbessern.

Auch den vorgesehene Wegfall der Ausnahmeregelung vom generischen Preisanker sieht die BAG SELBSTHILFE kritisch, da diese ein gutes Instrument war und ist, um in Indikationsbereichen, bei denen es aus fachlichen Gründen sehr schwierig ist, Nutzennachweise zu führen (Epilepsie, Diabetes), eine adäquate Grundlage für die Preisbildung zu liefern. Denn wenn die neue Therapie selbst eine wichtige Behandlungsalternative darstellt, ist es sinnvoll, vom sog. generischen Preisanker abweichen zu können. Andernfalls wird – wie im Bereich der Epilepsie vor der Einführung dieser Ausnahmeregelung geschehen – damit zu rechnen sein, dass die Medikamente vom Hersteller wieder vom Markt genommen werden.

3. Verlängerung der Frist für die Beratungen im GBA zum Austausch von Biologika in Apotheken (§ 129 Abs. 1a S. 5 SGB V GesE)

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt die Verlängerung der Frist für die Beratungen im Gemeinsamen Bundesausschuss zum automatischen Austausch von Biologika in Apotheken um ein Jahr als ersten guten Schritt in die richtige Richtung, da sie den automatischen Austausch von Biologika in Apotheken generell nicht für sinnvoll erachtet:

Zwar hält sie die Verordnung von Biosimilars als „Einstieg“ in die Biologika Therapie bei guter gemeinsamer Entscheidungsfindung zwischen Patient*in und Arzt für eine durchaus sinnvolle und kostengünstige Möglichkeit der Behandlung. Auch ein Therapiewechsel aus medizinischen Gründen kann im Einzelfall unter Berücksichtigung der Studienlage, der Sicherheit des Medikamentenwechsels und der individuellen Situation der Patientin oder des Patienten sinnvoll und notwendig sein. Nach den Erfahrungen unserer Verbände ist dabei das ausführliche Gespräch zwischen Arzt und Patient oder Patientin wichtiger Bestandteil der Behandlung, da nur so geklärt werden kann, welche Anwendungsform und welche Anwendungsintervalle am ehesten mit dem Alltag der Betroffenen in Einklang zu bringen sind. Zudem ist nur auf diese Weise sichergestellt, dass der Arzt Kenntnis von der Umstellung erhält und so etwa das Auftreten von unerwünschten Arzneimittelwirkungen richtig bewerten kann.

Das Gespräch mit dem Arzt ist auch aus folgendem Grund dringend erforderlich: Der Therapiewechsel von Originalpräparaten auf Biosimilars ist zwar in RCT-Studien (z.B. NOR-SWITCH) mit guten Ergebnissen untersucht worden. In der Realität hat sich jedoch gezeigt, dass bis zu 30 Prozent der Betroffenen die Behandlung nach dem Therapiewechsel auf ein Biosimilar abbrechen. Zurückgeführt wird dieser hohe Anteil an Therapieabbrüchen auf den sog. Nocebo-Effekt (negative Erwartungshaltung mit der Folge von negativen Symptomen), welcher aus der Wahrnehmung entsteht, ein „schlechteres“ Präparat erhalten zu haben. Als „Gegenmittel“ gegen solche Therapieabbrüche wird national und international das intensive Gespräch zwischen Arzt und Patient über die Umstellung der Therapie angesehen. Dieses ist jedoch bei einem Austausch in der Apotheke nicht mehr gewährleistet.

Schwierig ist ferner, dass für bestimmte Austauscharten keine Daten vorliegen: So ist der Austausch zwischen zwei Biosimilars (cross switch) bzw. des mehrfachen Wechsels des Arzneimittels in laufender Therapie (multiple switch) als problematisch zu werten. Hier liegen derzeit keine validen Daten vor, auf deren Grundlage eine wissenschaftliche Bewertung des Austausches möglich wäre. Gleichzeitig kann etwa die Bildung von Antikörpern beim mehrfachen Wechsel, insbesondere bei komplex strukturierten Biologika und deren Biosimilars nicht ausgeschlossen werden.

Insoweit hatte die BAG SELBSTHILFE in ihrer Stellungnahme zum GSAV bereits dargestellt, dass eine Regelung dieser Thematik durch den Gemeinsamen Bundesausschuss aufgrund der fehlenden Datenlage kaum möglich ist; die im damaligen Gesetzentwurf vorgesehene Ein-Jahresfrist zur Beschlussfassung hielt sie jedenfalls in keiner Weise ausreichend, um die äußerst komplexe Thematik beim Gemeinsamen Bundesausschuss adäquat zu beraten. Vor diesem Hintergrund hält sie eine Verlängerung der Frist für sinnvoll.

4. Notfallversorgung: Entscheidungskompetenz des nichtärztlichen Personals über die Zuweisung zur ambulanten Versorgung (§ 120 Abs. 3b S. 3 Nr. 2 SGB V GesE)

Schließlich lehnt die BAG SELBSTHILFE nachdrücklich die Formulierung im Gesetzentwurf ab, durch die es ermöglicht wird, dass nichtärztliches Personal darüber entscheidet, ob Menschen im Notfall eine Krankenhausbehandlung erhalten müssen. Dies kann in vielen Fällen eine Entscheidung über Leben und Tod sein; eine solche Entscheidung kann nur durch Ärzte getroffen werden und nicht durch nichtärztliches Personal. Nach der vorliegenden Regelung ist die Einschätzung der Ärzte jedoch nur subsidiär vorgesehen, also dann, wenn das nichtärztliche Personal nicht zur Einschätzung in der Lage ist; dies lehnt die BAG SELBSTHILFE ab und hält eine Korrektur für dringend erforderlich, zumal die Regelung nach der Gesetzesbegründung eigentlich nur der Klarstellung dienen sollte.

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