Pflegepolitische Forderungen

1. Was erwartet die BAG SELBSTHILFE von einer gerechteren Ausgestaltung der Pflegeversicherung?

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Die Pflegeversicherung hatte von Anfang an den Webfehler, dass sie als „Teilkaskosystem“ ausgestaltet wurde. So tragen die Betroffenen und ihre Familien immer höhere Kosten für ihren Aufenthalt in einem Pflegeheim selbst; diese lagen insgesamt bundesweit im Schnitt zum Juli 2020 für alle Kosten bei rund 2.000 €. 

Darin enthalten sind folgende Kosten (Durchschnittskosten):

1.Investitionskosten                                                            455 €
2. Kosten für Unterkunft und Verpflegung                             786 €
3. Pflegekosten im engeren Sinne 774 €

Diese Kosten variieren jedoch stark zwischen den einzelnen Bundesländern: Während Pflegebedürftige in Nordrhein-Westfalen im Schnitt 2.405 € für einen Heimplatz bezahlen, liegt der Durchschnittsbetrag in Sachsen- Anhalt bei 1.436 €. Rund ein Drittel der Pflegebedürftigen kann diese Kosten nicht tragen und muss den Gang zum Sozialamt antreten; unter Umständen wird dann vom Sozialamt Rückgriff auf das Einkommen und Vermögen der Kinder genommen, auch wenn inzwischen die Rückgriffsmöglichkeit auf Einkommen über 100.000 € beschränkt wurde.

Solche Abläufe belasten nicht nur das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, sondern sind für die Betroffenen auch mit erheblichen Schamgefühlen verbunden, nach einem langen Erwerbsleben auf Sozialhilfe angewiesen zu sein.

Dies ist aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE nicht hinnehmbar; sie hat daher folgende Forderungen:

1. Umbau der Pflegeversicherung in eine Pflegevollversicherung- Zwischenschritt Sockel-Spitze-Modell

Der Webfehler der Pflegeversicherung sollte behoben und die Pflegeversicherung in ein Vollmodell weiterentwickelt werden, in dem die Pflegekosten vollständig von den Pflegekassen übernommen werden. In einem Zwischenschritt könnte das sog. Sockel-Spitze- Modell eingeführt werden: Danach würde der Betroffene einen festen Eigenanteil- etwa von 300 € - bezahlen; jegliche Kostensteigerungen – etwa durch höhere Löhne der Pflegekräfte - würden von den Pflegekassen finanziert.
 

2. Übernahme der Investitionskosten durch Steuermittel

Bereits jetzt ist es an sich Aufgabe der Länder, durch Steuermittel die Finanzierung der Investitionskosten für Pflegeheime sicherzustellen. Aus dieser Verantwortung haben sich die Länder weitgehend verabschiedet, so dass die Pflegebedürftigen fast vollständig die Kosten für die Instandhaltung der Pflegeheime übernehmen. Dies kann nicht sein; die Kosten für Pflegeheime sind aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE ebenso Kosten für die Daseinsvorsorge wie der Bau von Straßen. Vor diesem Hintergrund sollten die Investitionskosten vom Staat- Bund oder Länder - vollständig übernommen werden. Diese Übernahme setzt jedoch auch voraus, dass die Höhe der Investitionskosten stärker kontrolliert wird, damit nicht Renditen auf Kosten des Steuerzahlers gesteigert werden.
 

3. Stärkere staatliche Kontrolle der Kosten für Unterkunft und Verpflegung

Auch wenn die Pflicht zur Übernahme der Kosten für Unterkunft und Verpflegung durch den Pflegebedürftigen nachvollziehbar erscheint, haben nach unserer Erfahrung Kostensteigerungen in der Vergangenheit stattgefunden, die immer wieder nicht inhaltlich nachvollziehbar erschienen. Vor diesem Hintergrund wird eine stärkere Kontrolle dieser Posten zum Schutz der Pflegebedürftigen gefordert.
 

2. Anreize setzen für Pflegepersonal in Rehabilitation, Alten-und Behindertenpflege

Aus Sicht der Selbsthilfe bedarf es in Bezug auf den Mangel an Pflegekräften geeignete Maßnahmen für unterschiedliche Bereiche. Einerseits sind die Verantwortlichen im stationären Krankenhausbereich aufgefordert, über die schon vorgenommenen Schritte hinaus weitergehende Maßnahmen einzuleiten. Doch ebenfalls muss es Anreize geben, im Bereich von Rehabilitation, Alten- und Behindertenpflege die Pflege zu stärken.

Es ist dringend erforderlich, den neu überarbeiteten Pflege-TÜV so kontinuierlich fortzuschreiben und so weiterzuentwickeln, dass er Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen wirklich bei ihrer Entscheidung für ein Pflegeheim weiterhilft. Zwar wird die Überarbeitung als wichtiger Fortschritt angesehen, an denen die Verbände der Pflegebedürftigen auch mitgearbeitet haben. Aus ihrer Sicht fehlen jedoch noch wichtige Angaben, etwa umfassendere Informationen zur Barrierefreiheit.

Sie haben deswegen das Forderungspapier „Pflegequalität transparent gestalten"  Dieses Dokument in neuem Tab öffnen und vorlesen für eine Fortentwicklung des sog. Pflege-TÜVs erarbeitet. Mit ihrem Hintergrundpapier „Pflegequalität transparent gestalten"  Dieses Dokument in neuem Tab öffnen und vorlesen stellen sie weitergehende Erläuterungen zur Verfügung.

Schließlich sind auch dringend konkrete Maßnahmen erforderlich, um sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht für eine adäquate personelle Ausstattung der Pflege zu sorgen. Hier wird vor allem das sich derzeit in den Beratungen befindliche und wissenschaftliche Instrument der Personalbemessung eine große Rolle spielen.

An all diesen Punkten wird die BAG SELBSTHILFE auch in Zukunft die Anliegen von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen in die Beratungen des Qualitätsausschusses und der sonstigen Richtlinien und Vereinbarungen einbringen. Bereits seit 2012 ist sie als einer der maßgeblichen Verbände mitberatend an der Erarbeitung der entsprechenden Vereinbarungen und Richtlinien beteiligt, seit 2016 ist sie auch im neu gegründeten Qualitätsausschuss tätig.
 

3. Forderungen zur Pflege im Krankenhaus

Eine zu niedrige Personalausstattung in Krankenhäusern gefährden die Patientensicherheit; internationale Studien zeigen dies eindrücklich. Vor diesem Hintergrund setzt sich die BAG SELBSTHILFE dafür ein, dass – ebenso wie in der Altenpflege derzeit in Arbeit - zeitnah ein wissenschaftlich abgesichertes Instrument zur Personalbemessung in Krankenhäusern, welches sich nicht am Ist- Zustand, sondern am Bedarf der Patientinnen und Patienten ausrichtet. Die BAG SELBSTHILFE sieht insoweit die Herausnahme der Pflegekosten aus den Fallpauschalen als ersten wichtigen Schritt für eine solche Verbesserung der Personalausstattung. Auch Personaluntergrenzen können zwar ein erster Schritt zur Verbesserung sein, bergen aber gleichzeitig das hohe Risiko, dass sich die Kostenträger am Minimum orientieren und dadurch bei manchen Krankenhäusern eine Verschlechterung eintritt; sie können daher nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einem wissenschaftlich abgesicherten Personalbemessungsinstrument sein. 

Zusammen mit anderen Organisationen hat die BAG SELBSTHILFE deswegen in dem Forderungspapier „(Weiter-)Entwicklung und verpflichtende Anwendung eines am Pflegebedarf ausgerichteten Personalbemessungstools für die Pflege in Krankenhäusern“  Dieses Dokument in neuem Tab öffnen und vorlesen ihre Vorstellungen zur Weiterentwicklung konkret dargelegt. 
 

4. Verwirklichung von „Reha vor Pflege“ durch ein neues Anreizsystem

Ganz grundsätzlich muss der Fokus der politischen Bestrebungen darauf liegen, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden.

Die BAG SELBSTHILFE fordert daher, dass der Grundsatz „Reha vor Pflege“ konkret umgesetzt wird. Hierzu müssen Anreizsysteme insbesondere im Bereich der Rehabilitation geschaffen werden. So ist sicherzustellen, dass alles nur Erdenkliche getan wird, um die Betroffenen in diesem Unterstützungssystem zu fördern. Ein Abschieben in die Erwerbsunfähigkeit und in die Pflege muss vermieden werden, wo dies vermeidbar ist.
 

5. Gewalt in der Pflege darf nicht sein

Immer öfter erscheinen in der Presse Berichte über das Thema Gewalt in der Pflege. Über Kränkungen, Aggressionen und Gewaltanwendungen wird auch in den Selbsthilfeorganisationen chronisch kranker und behinderter Menschen häufig berichtet. Es fehlt aber bislang an ausreichender Unterstützung und Hilfe. Die wenigen Meldestellen gegen Gewalt in der Pflege, die von der BAG SELBSTHILFE eingerichtet wurden und vom Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter weitergeführt werden, reichen nicht aus, um allen Betroffenen helfen zu können. Auch pflegende Angehörige oder Pflegekräfte müssen gezielt mit Unterstützungsangeboten aus der Überforderung und einer sonst eskalierenden Gewaltspirale herausgeholt werden.

Wir fordern daher:

  • Keine Toleranz von Gewalt gegen pflegebedürftige Menschen in keiner Situation und zu keiner Zeit
  • Verbreitung und Einhaltung der Charta der Rechte für hilfe- und pflegebedürftige Menschen sowie der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland
  • Schaffung eines bundesweiten Netzes von Meldestellen gegen Gewalt in der Pflege
  • Förderung von Projekten zu Prävention und Intervention bei Gewalterfahrungen in der Pflege
  • Aufnahme von Deeskalationstrainings und Wissensvermittlung über Gewalt in der Pflege in alle Ausbildungsgänge für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pflegekräften
  • Finanzierung von Kursen zum Deeskalationstraining für pflegende Angehörige
  • Schaffung einer Lehr-, Forschungs- und Dokumentationsstelle zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Problematik „Gewalt in der Pflege“
  • Zeitnahe Umsetzung der Neuregelungen zur Selbsthilfeförderung durch die Pflegekassen nach dem SGB XI
     

6. Situation der pflegenden Angehörigen verbessern

Es bedarf dringend einer Verbesserung der Situation der pflegenden Angehörigen. Denn über 70 Prozent der Pflegebedürftigen werden von Angehörigen gepflegt; die Angehörigen sind damit der größte Pflegedienst Deutschlands und sparen der Pflegeversicherung jährlich Milliarden durch ihr Engagement.

Gleichzeitig sind viele dieser Angehörigen offenbar am Limit. So zeigt der Pflegereport der Barmer Ersatzkasse alarmierende Zahlen: Ein längerfristiger Vergleich von pflegenden und nicht pflegenden Personen ergab, dass Verschlechterungen des Gesundheitszustandes bei Pflegenden zwischen 2012 und 2017 deutlich ausgeprägter auftrat. Dies betrifft vor allem psychische Belastungen, insbesondere Depressionen, aber auch Rückenbeschwerden und Schmerzen. Dabei gaben viele Pflegende an, Arztbesuche wegen der Belastungen zu unterlassen. Rund die Hälfte der Pflegenden kümmert sich mehr als 12 Stunden täglich um die Pflegebedürftigen. Fast jeder 10te gab an, kurz davor zu stehen, die Pflege einzustellen.

a) Flächendeckendes, barrierefrei zugängliches und niedrigschwelliges Beratungs- und Hilfesystem

Hier muss es folglich darum gehen, die Grundsituation pflegender Angehöriger zu verbessern. Der gesetzlich verankerte Anspruch auf Rehabilitation und die gesetzlich abgesicherte Stärkung der Selbsthilfeförderung reichen bei weitem nicht aus.

Ein wesentlicher Grund für die starke Belastung pflegender Angehöriger ist der kaum zu durchschauenden Dschungel an Ansprüchen für Pflegeleistungen sowie bürokratische Hürden. Viele Entlastungsangebote werden deswegen nicht abgerufen, weil die Betroffenen sie nicht kennen oder ihre Beantragung zu komplex ist.

Vor diesem Hintergrund fordert die BAG SELBSTHILFE dringend, dass ein flächendeckendes, barrierefrei zugängliches und niedrigschwelliges Beratungs- und Hilfesystem sowohl für Betroffene als auch Pflegebedürftige sichergestellt wird und vor allem bekannt gemacht wird. Der grundsätzlich bestehende Anspruch nach § 7a SGB XI ist wohl in vielen Fällen kaum bekannt bzw. wird zu wenig in Anspruch genommen.

b) Bessere rentenrechtliche Absicherung der pflegenden Angehörigen

Die BAG SELBSTHILFE fordert eine bessere rentenrechtliche Absicherung der pflegenden Angehörigen, welche durch Steuermittel finanziert wird.

Entsprechend der Forderung der Arbeits- und Sozialministerkonferenz hält sie es für notwendig, dass

  1. die Pflegezeiten im Rentenrecht unabhängig vom Erwerbsstatus der pflegenden Person angerechnet werden. Dementsprechend soll die bislang geltende Voraussetzung für den Anspruch wegfallen, dass pflegende Angehörige ihre wöchentliche Arbeitszeit auf 30 Stunden reduzieren;
  2. pflegende Angehörige auch dann die Möglichkeit haben, Rentenanwartschaften zu erwerben, wenn sie mit Eintritt ins Rentenalter eine Vollrente beziehen;
  3. Pflegezeiten in gleicher Weise angerechnet werden wie Kindererziehungszeiten.
     

7. Neue Formen der Pflegeleistungen verfügbar machen

Die Reformvorhaben der Pflegestärkungsgesetze I bis III haben wichtige Verbesserungen im Bereich der Pflegeversicherung gebracht. Mit dem Pflegestärkungsgesetz II hat der Gesetzgeber die Pflegeversicherung 20 Jahre nach ihrer Einführung auf eine neue Grundlage gestellt. erhalten nun endlich alle Pflegebedürftigen - einschließlich der Menschen mit Demenz - einen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung.

Die BAG SELBSTHILFE hatte diese Neugestaltung immer wieder nachdrücklich eingefordert und die Ausrichtung von Pflege an Minuten und an den Defiziten der Betroffenen ausdrücklich kritisiert.

Im Zuge der Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs müssen die entsprechenden Richtlinien und Vereinbarungen an vielen Stellen an die neue Gesetzeslage anpasst werden.

Vor allem müssen neue Leistungen für Pflegebedürftige tatsächlich flächendeckend verfügbar sein. Ein neuartiger Anspruch auf Hilfe und Unterstützung, der nur auf dem Papier vorhanden ist, für den es aber keine entsprechenden neuen Angebote gibt führt schlimmstenfalls zu Verschlechterungen für die Betroffenen statt zu besserer Pflege. Dies zeigt etwa die neu geschaffene Möglichkeit, Pflegedienstleistungen nach Zeitbudget einzukaufen.

8. Beteiligung braucht passende Bedingungen der Interessenvertretung

Trotz entsprechender Hinweise ist für diese Mitberatung bisher nur für ehrenamtlich Tätige  die Erstattung von Reisekosten vorgesehen. Dies hat zur Folge, dass gerade hauptamtliche Vertreter von Verbänden, die ihren Sitz außerhalb von Berlin haben, nicht an den Beratungen teilnehmen können und ein großer Teil der Sitzungstätigkeit bzw. Vertretungen von erkrankten Ehrenamtlern durch die entsprechenden Dachverbände wahrgenommen werden muss. Hierdurch entsteht weiterer Koordinierungsaufwand; auch für die Abstimmung der Positionen mit den anderen beteiligten maßgeblichen Organisationen ist dieser notwendig. Der insoweit gegründete Koordinierungskreis verfügt nicht über eine Stabstelle nach dem Modell der Patientenvertretung im Gemeinsamen Bundesausschuss oder eine vergleichbare Einrichtung, trotzdem hier umfangreiche koordinierende Aufgaben anfallen, welche sich in Zukunft noch weiter intensivieren werden.

Vor diesem Hintergrund fordert die BAG SELBSTHILFE

  • eine gesetzliche Regelung, wonach Reisekosten und Verdienstausfall sowohl für ehrenamtlich als auch für hauptamtlich Tätige für die Beratungen übernommen werden müssen. Nur so können auch kleine Verbände an den Beratungen teilnehmen.
  • eine gesetzliche Regelung, wonach eine Stabsstelle nach dem Vorbild des § 140f Abs. 6 SGB V zu schaffen ist, welche die maßgeblichen Verbände bei Ihrer Arbeit unterstützt.
  • Verfahrensregeln, welche sicherstellen, dass die Anliegen der Pflegebedürftigenvertretung angemessen in den Beratungen berücksichtigt werden müssen, etwa eine Begründungspflicht bei Nichtübernahme der Positionen.