Stellungnahme zum Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz - GVSG

Als Dachverband von 121 Bundesverbänden der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen und deren Angehörigen sowie von 13 Landesarbeitsgemeinschaften begrüßt die BAG SELBSTHILFE viele Vorschläge des Gesetzentwurfes. Allerdings bedauert sie es, dass in dem Entwurf keine Vorschläge enthalten sind, wie die medizinische Versorgung insbesondere in ländlichen, sozial- oder strukturschwachen Regionen verbessert werden kann. Denn komplexe Erkrankungen und Lebenslagen bedürfen der Abstimmung einer Vielzahl von Akteuren, die sich innerhalb der Region befinden und dort gemeinsam agieren (müssen). Vernetzte, patienten- und bedarfsorientierte Versorgung muss daher regional gestaltet und organisiert werden können. Ältere, geh-eingeschränkte und/ oder multimorbide Menschen benötigen zudem eine gute Versorgung direkt vor Ort, da ihre Mobilität zunehmend beschränkt ist. Vor diesem Hintergrund fordert die BAG SELBSTHILFE ein abgestimmtes Konzept, wie die Versorgung und Vernetzung in den Regionen, insbeson-dere in ländlichen, sozial- und/ oder strukturschwachen Räumen verbessert werden kann. Dies beinhaltet auch eine Verbesserung der Regelungen für die Fahrtkos-tenerstattung im ambulanten und tagesstationären Bereich: Denn wenn eine zunehmende Ambulantisierung politisch gewollt ist, kann es nicht sein, dass die Patient*innen dem System Geld sparen und gleichzeitig selbst mit höheren Fahrtkosten zu kämpfen haben.

Die vorgesehene Überarbeitung der hausärztlichen Versorgungspauschalen für Menschen mit chronischen Erkrankungen kann aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE durchaus ein zweischneidiges Schwert sein und wird deswegen kritisch gesehen. Auf der einen Seite kann natürlich die Umstellung von Quartals- auf Jahrespauschalen durchaus dafür sorgen, dass unnötige Einbestellungen vermieden und schnellere Termine für wirklich Behandlungsbedürftige zur Verfügung gestellt werden können. Auf der anderen Seite gilt: Die Versorgungbedarfe von Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen sind höchst unterschiedlich. Während manche Menschen eher auf eine gute fachärztliche Versorgung angewiesen sind, können andere – je nach Stadium oder Ausprägung der Erkrankung – durchaus eine engmaschige hausärztliche Versorgung benötigen. So konnte etwa im Bereich der Multiplen Sklerose festgestellt werden, dass Menschen mit fortgeschrittener MS - häufig gepaart mit Pflegebedarf und hoher Bedarfslage der symptomatischen Therapien - die hausärztliche Versorgung aus guten Gründen oft beanspruchen. Hier erschließt sich für die BAG SELBSTHILFE nicht, wie eine Sicherstellung der Versorgung erfolgen soll, wenn Angehörige fehlen, die die Versorgung begleiten und auf die Einhaltung von Terminen achten bzw. diese gegenüber den Ärzt*innen einfordern. So wünschenswert die Reduktion von sinnlosen Arztkontakten ist, so sehr besteht das Risiko mit dieser Änderung, dass sich die Betreuung von Menschen mit chronischen Erkrankungen  deutlich verschlechtert, zumal die jährliche Versorgungspauschale deutlich niedriger als die Summe der derzeit bezahlten vierteljährlichen Quartalspauschalen ist. Auch dies dürfte dazu beitragen, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen deutlich seltener einbestellt werden. Hinzu kommt das Problem, dass Betroffene bei einem unterjährigen Hausarztwechsel u.U. vor dem Problem stehen, dass die Pauschale nur einmal bezahlt wird und so Hausärzte die Betroffenen erst wieder im nächsten Jahr annehmen. Auch dies verschlechtert die Situation der Betroffenen.

Hinsichtlich der vorgesehenen Vorhaltepauschalen hält die BAG SELBSTHILFE zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention eine Ergänzung der Kriterien um das Kriterium „barrierefreie Ausgestaltung der Praxis“ für notwendig, da nur rund 21 Prozent der Arztpraxen barrierefrei ausgestaltet sind. Denn um eine bedarfsgerechte hausärztliche Versorgung für alle Menschen sicherzustellen, ist es erforderlich, dass Arztpraxen barrierefrei sind.

Zu den Regelungsvorschlägen im Einzelnen:

1. Erweiterung des Stellungnahmerechts (§ 92 SGB V RefE)

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt die Erweiterung des Stellungnahmerechts wissenschaftlicher Fachgesellschaften auf weitere Anwendungsgebiete im GBA, so zum Beispiel bei der sog. Rehabilitationsrichtlinie. Grundsätzlich haben die Erfahrungen gezeigt, dass die Stellungnahmen von wissenschaftlichen Fachgesellschaften oft einen Mehrwert in Bezug auf aktuelle medizinische Entwicklungen mit sich bringen können. Vor diesem Hintergrund wird die vorgesehene Erweiterung positiv gesehen.

2. Fristsetzung für DMPs (§ 137f Absatz 1 SGB V RefE)

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt die Anpassung der Fristen für die Erarbeitung der DMP-Richtlinien an die Maßgaben der Methodenbewertungsverfahren. Gerade die Beratungen zu den jüngst im GBA beschlossenen DMPs hatten längere Zeit in Anspruch genommen. Insgesamt ist jedoch leider festzustellen, dass die DMPs auch nach ihrer Fertigstellung oft nicht in der Versorgung ankommen. Ein gravierenderes Problem als die Beratungszeiten ist die schleppende oder nichtvorhandene Umsetzung der Richtlinien in den notwendigen Verträgen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern. Eine Frist oder eine Verpflichtung zur Schließung von derartigen Verträgen gibt es nach derzeitiger Gesetzeslage nicht, weswegen in vielen Bereichen kaum (DMP Osteoporose) oder gar keine (DMP-Rückenschmerz und Rheumatoide Arthritis) Verträge geschlossen werden. Vor diesem Hintergrund fordert die BAG SELBSTHILFE – über die begrüßenswerte Fristsetzung zur Erstellung der DMPs – auch eine Verpflichtung der Vertragsparteien zur Schließung von DMP-Verträgen innerhalb einer bestimmten Frist, wie sie auch im Eckpunktepapier zu den Herz-Kreislauferkrankungen des BMGs enthalten waren. Auch die weiteren Vorschläge zur Information der Versicherten über die DMPs, die Konkretisierung der Anforderungen an Schulungen sowie der Verzicht auf das Zulassungsverfahren durch das BAS sollten zeitnah in das Gesetzgebungsverfahren eingespeist werden, um dann auch wirklich eine Verbesserung im Bereich der DMPs zu erreichen.

3. Vetorecht der Patientenvertretung und Erweiterung des Antragsrechtes (§ 140f Abs. 2 SGB V)

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt die Regelungen zur Erweiterung der Antragsbefugnisse und das Vetorecht der Pateientenvertretung, hält aber – gegenüber einem Vetorecht – eine strukturelle Stärkung der Patientenvertretung für dringender. Denn ein Vetorecht ist im Grundsatz ein eher destruktives Mittel der Auseinandersetzung. Die Patientenvertretung tritt jedoch seit nunmehr über 20 Jahren anerkanntermaßen für eine Beschleunigung von konstruktiven Lösungen bei Versorgungsproblemen ein. Letztlich handelt es sich bei dem Vetorecht eher um ein Mittel der Verzögerung, was die Patientenvertretung – im Gegensatz zu anderen Bänken - trotz vieler Herausforderungen von schnellen Verfahren wie im ANMOG-Bereich immer abgelehnt hat.

Aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE ist dieses temporäre Vetorecht vor allem dazu geeignet, Aufmerksamkeit bei klar unzureichenden Regelungen im Sinne eines „Hier stehen wir und können nicht anders“ zu generieren. Gleichzeitig bringt es die Patientenvertretung bei mittelguten/mittelschlechten Verbesserungen der Versorgung in das Dilemma, dass man hier den Eintritt einer leichten Verbesserung für Patient*innen – unter Umständen etwas– verzögert (wenn das Inkrafttreten nicht ohnehin nach den Regelungen der Richtlinie nicht deutlich in der Zukunft liegt). Möglicherweise erhöht das temporäre Vetorecht auch die Kompromissbereitschaft der Bänke, gleichzeitig bringt es jedoch aber auch das Risiko mit sich, dass die zu Beginn der Teilnahme der Patientenvertretung an den Beratungen des GBA und seither längst überholten Vorwürfe einer Verzögerung von Beratungen durch die Patientenvertretung wieder aufgewärmt werden.

Die BAG SELBSTHILFE hält in jedem Falle das vorgesehene Vetorecht nicht für ausreichend, die Patientenvertretung in substantieller Weise zu stärken.

Die maßgeblichen Verbände der Patientenvertretung haben im September 2023 ein Forderungspapier „Stärkung der Patientenbeteiligung und -vertretung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und weiteren Beteiligungsgremien nach
§ 140f SGB V zur Berücksichtigung im Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz“ veröffentlicht. Darin sind verschiedene Vorschläge enthalten, die der Patientenvertretung eine konstruktive Mitgestaltung der Versorgung ermöglichen würden; Patientenbeteiligung muss aus Sicht der Verbände vor allem eine strukturelle Stärkung der Patientenorganisationen und eine bessere Unterstützung ermöglichen. Das Forderungspapier nennt hierzu beispielsweise den Ausbau der Stabsstelle Patientenbeteiligung im
G-BA, eine Ausweitung der Unterstützungsstruktur und spezifische Entschädigungen für die Sprecherinnen und Sprecher in den Unterausschüssen sowie den Ausbau der Koordination auf Landesebene. Die BAG SELBSTHILFE fordert insoweit die gesetzliche Umsetzung dieser Vorschläge.

Ausdrücklich begrüßt wird seitens der BAG SELBSTHILFE die Klarstellung, dass die Patientenvertretung auch bei den Regelungen zu den Modellvorhaben sowie § 136c SGB V ein Antragsrecht hat. Auch wenn es hier in der Vergangenheit im Gemeinsamen Bundesausschuss keine Probleme gab, heißt dies nicht unbedingt, dass dies auch so bleibt.

4. Bewilligung von Hilfsmitteln, die von Versicherten beantragt werden, die in SPZs oder MZEBs in Behandlung sind (§ 33 Abs. 5c RefE)

Die vorgesehenen Regelungen zur Beschleunigung des Bewilligungsverfahrens im Hilfsmittelbereich für Patient*innen, die in SPZs und MZEBs behandelt werden, werden seitens der BAG SELBSTHILFE sehr begrüßt. Menschen mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen und ihre Angehörigen leiden erheblich unter dem bürokratischen Aufwand, die mit dem Management der Erkrankung oder Behinderung verbunden sind; Entbürokratisierung und Beschleunigung sind insoweit dringend erforderlich. 

Allerdings sind weder MZEBs noch SPZs bundesweit im ausreichenden Maß vorhanden, so dass ein gleichwertiger Zugang für alle Menschen mit schweren Behinderungen nicht vorhanden ist. Die gesetzliche Neuregelung allein ist daher keinesfalls ausreichend, vielmehr ist durch die frühzeitige Schaffung entsprechender Zentren und Plätze für die Betroffenen auch ein gleichwertiger Zugang als Prämisse zu gewährleisten. Denn nur dann kann die gesetzliche Neuregelung Wirkung entfalten und tatsächlich eine Beschleunigung eintreten.

Zudem halten wir es für erforderlich, dass die beabsichtige Neuregelung zur Beschleunigung nicht ausschließlich Versicherten, die in SPZs/MZEBs behandelt werden, vorbehalten bleibt. Vielmehr sollte diese Neuregelung für alle Patient*innen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen gelten, die auf Hilfsmittel angewiesen sind. Hier könnte ein Statusfeststellungsverfahren geschaffen werden, das den fortdauernden Hilfsmittelbedarf bei bestimmten stabilen Erkrankungen feststellt oder im Falle von progredienten Erkrankungen prognostiziert. Denkbar wäre auch eine Diagnoseliste analog zu den Listen zu langfristigen Heilmittelbedarfen (Liste mit den besonderen Verordnungsbedarfen und Liste zum langfristigen Heilmittelbedarf.

Sofern § 33 Abs. 5c SGB V n.F. vorsieht, dass die beantragte Hilfsmittelversorgung von dem Arzt innerhalb der letzten drei Wochen konkret empfohlen worden sein muss, damit die Vermutungsregelung zur Erforderlichkeit des Hilfsmittels greift, ist die Frist von drei Wochen zu kurz bemessen: vor Antragstellung ist gerade bei der umfangreichen Versorgung von schwerst- und mehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen häufig eine persönliche Abstimmung mit den Hilfsmittelerbringern erforderlich (z.B. detaillierter Kostenvoranschlag, Bemaßungen, Aufbau des Hilfsmittels), die als notwendige Unterlagen der Verordnung beizulegen sind, jedoch sind auch hier wegen Personalmangels entsprechende Wartezeiten (2-3 Wochen) miteinzuplanen. Die BAG SELBSTHILFE fordert deshalb die Frist, innerhalb derer die Hilfsmittelversorgung aufgenommen werden muss, mit § 8 Abs. 2 S. 1 der Hilfsmittel-RL zu harmonisieren und entsprechend auf 28 Tage zu verlängern.

5. Service- und Leistungsqualität der Kranken- und Pflegekassen (§ 217f Absatz 4 SGV V RefE)

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt die vorgesehene Erhebung der Service- und Leistungsqualität sehr. Denn bisher wurden wettbewerbliche Strukturen befördert, ohne dass Patient*innen aufgrund der Intransparenz des Systems kaum echte Auswahlmöglichkeiten hatten, wenn Sie nach den für sie relevanten Parametern der schnellen und unkomplizierten Bewilligung von Leistungen suchten. Insoweit wurde ein wettbewerbliches Verhalten gefordert, das praktisch kaum umsetzbar ist. Es steht zu hoffen, dass mit den vorgesehenen Regelungen eine stärkere Transparenz ins Leistungs- und Bewilligungsgeschehen der Krankenkassen gebracht wird.

Es ist auch zu begrüßen, dass diese Informationen jährlich - erstmals 2025 - auf einer digitalen und interaktiven Plattform veröffentlicht sollen und dass die Darstellung und Erläuterungen in einer für die Versicherten verständlichen und barrierefreien Form und Sprache erfolgen sollen. Die Kranken- und Pflegekassen werden verpflichtet, ihre Versicherten über dieses Angebot zu informieren.

Die BAG SELBSTHILFE vermisst jedoch in den Regelungen noch eine Patientenbeteiligung; welche Dienstleistungs- und Serviceangebote für Patient*innen in welcher Art wichtig und notwendig sind, wissen die Patient*innen im Zweifelsfall besser als der GKV-Spitzenverband alleine. Insoweit fordert die BAG SELBSTHILFE ein Mitberatungsrecht der maßgeblichen Patientenorganisationen an dieser Richtlinie; mindestens ein Stellungnahmerecht der Patientenorganisationen mit einer angemessenen Frist von einem Monat sollte hierzu im Gesetz enthalten sein.

Auch hinsichtlich der Ausgestaltung der Plattform sollten die maßgeblichen Patientenorganisationen eingebunden werden, damit die Aspekte der Barrierefreiheit und der Verständlichkeit auch aus Patientensicht beurteilt werden können.

6. Entbudgetierung der Hausärzte, Versorgungspauschale und Vorhaltepauschale ($ 87a Abs. 3c SGB V)

a. Entbudgetierung

Die BAG SELBSTHILFE sieht die vorgesehene Entbudgetierung der Hausärzte kritisch. Denn wenn die Entbudgetierung nicht mit einer Erhöhung des Gesamtvolumens einhergeht, dürfte diese zu Lasten der Fachärzte gehen- mit der Folge, dass GKV-Patient*innen noch schwieriger einen Termin bekommen, weil sie noch unattraktiver werden. Derzeit sind die Facharzttermine bereits nur mit sehr langen Vorlaufzeiten von mehreren Monaten erhältlich.

b. Versorgungspauschalen

Die vorgesehene Überarbeitung der der Versorgungspauschale auf eine jährliche Abrechnung sieht die BAG SELBSTHILFE – wie bereits dargestellt – mit gemischten Gefühlen. Denn einerseits leiden auch Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen unter Wartezeiten, die vermutlich auch deswegen entstehen, weil Ärzt*innen die Betroffenen quartalsmäßig einbestellen, ohne dass es dafür einen Sinn macht. Andererseits steht auch zu befürchten, dass die Umstellung dazu führt, dass es zu einer Unterversorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen kommt:

Denn die jährliche Versorgungspauschale belohnt es quasi, wenn Praxen wenige Kontakte zu Patient*innen haben. Dies kann sich sehr nachteilige auf chronisch kranke oder multimorbide Patient*innen und z.B. auf Menschen mit Demenz auswirken. Gerade für die Angehörigen von Menschen mit Demenz ist der regelmäßige Kontakt zum Hausarzt oft sehr wichtig, weil sich der Zustand immer wieder verändert und es immer neuen Besprechungsbedarf gibt.

Die hausärztliche Versorgung ist aber auch für Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen, etwa Multiple Sklerose in einem fortgeschrittenen Stadium von großer Bedeutung, da diese die hausärztliche Versorgung - häufig gepaart mit Pflegebedarf und hoher Bedarfslage der symptomatischen Therapien - aus guten Gründen oft beanspruchen. Die gewünschte Reduktion der Frequenz der Arztkontakte sollte also nicht zu Lasten derjenigen gehen, die genau diese benötigen. Hier erschließt sich auch nicht, wie eine Sicherstellung der Versorgung erfolgen soll, insbesondere wenn Angehörige fehlen, die die Versorgung begleiten und auf die Einhaltung von Terminen achten.

Zudem ist die in § 87 Abs. 2b S.5 und 6 SGB n.F. vorgesehene Formulierung, wonach eine jährlichen Versorgungspauschale zur Behandlung chronisch Erkrankter für die Versicherte eingeführt werden soll, bei denen „mindestens eine lang andauernde, lebensverändernde Erkrankung vorliegt, die einer kontinuierliche Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel bedarf“, bereits nach dem Wortlaut zu unbestimmt formuliert.

Die Pauschale soll einmal innerhalb von vier aufeinanderfolgenden Quartalen durch eine Arztpraxis abzurechnen sein, unabhängig davon, wie oft Versicherte die Praxis aufsuchen. Neben der Gefahr der drohenden Unterversorgung und der Schaffung von Anreizen zur Minimierung des Patienten-Arzt-Kontaktes, die mit der Einführung der Pauschale einhergehen können, ist zudem völlig ungeklärt, wie und an wen die Pauschale im Falle eines Arztwechsels (aus unterschiedlichen Gründen) ausgezahlt wird und wie sich diese Unklarheiten auf die Versorgung der Versicherten auswirken. Unklar ist auch, welche Anreize sich durch die jahresbezogene Pauschale ergeben können im Hinblick auf Patienten, die zwar chronisch erkrankt sind, jedoch aktuell (noch) keinen kontinuierlichen Arzneimittelbedarf haben.

c. Vorhaltepauschalen

Soweit in § 87 Abs. 2n SGB V n.F. neue Regelungen zur Vorhaltepauschale vorgesehen sind, ist aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE insbesondere die Abhängigkeit dieser Vorhaltepauschale zur Versorgungspauschale zu kritisieren. Nach dem derzeitigen Wortlaut ist die Vorschrift so zu verstehen, dass eine Vorhaltepauschale für Versicherte, für die eine jährliche Versorgungspauschale abgerechnet werden kann, einmal jährlich zu zahlen ist. Im Gegenzug entfällt diese dann, wenn die Voraussetzungen zur Abrechnung der Versorgungspauschale nicht (mehr) vorliegen. Damit wird ein Anreiz für Ärzte geschaffen, Menschen mit chronischen Erkrankungen seltener zu behandeln.

Ferner sieht die Vorschrift zahlreiche Kriterien vor, die von Hausätzten zu erfüllen sind, damit die Vorhaltepauschale abgerechnet werden kann. Zwar ist es zu begrüßten, dass auf diese Weise die Grundaufgaben der hausärztlichen Versorgung stärker ins Gedächtnis und die Praxis überführt werden sollen. Gleichzeitig ist die Schaffung zahlreicher neuer Kriterien zur Abrechenbarkeit mit dem Risiko verbunden, dass eine Vielzahl der bestehenden Praxen diese Kriterien nicht alle erfüllen (können), so dass eine Unterversorgung drohen kann. Die Regelungen zur Vorhaltepauschale werden zusätzlich zu einem erheblichen Verwaltungsaufwand aufgrund der notwenigen Erarbeitung der Kriterien, der Implementierung, der Prüfung und ggfs. etwaiger Widersprüche führen und damit zu einer weiteren Bürokratisierung und zu erheblichen Kosten. 

Die BAG SELBSTHILFE sieht – ebenso wie die Fachverbände der Menschen mit Behinderung – hinsichtlich der genannten Kriterien Ergänzungsbedarf: Sie sollten zwingend auch die Barrierefreiheit von Arztpraxen umfassen. Denn um eine bedarfsgerechte hausärztliche Versorgung sicherzustellen ist es notwendig, dass Arztpraxen barrierefrei sind. Derzeit sind nur etwa 21 % der Haus- und Facharztpraxen barrierefrei. Hier besteht somit dringender Handlungsbedarf, den zuletzt auch der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in seinen abschließenden Bemerkungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland aus dem Jahr 2023 aufgezeigt hat.

Hinzu kommt, dass die Schaffung von mehr barrierefreien Arztpraxen ein Schwerpunkt des Aktionsplans für eine barrierefreies diverses und inklusives Gesundheitswesen ist, den die Bundesregierung aktuell erarbeitet. Vor dem Hintergrund, dass bereits in dieser nur noch sehr kurzen Legislatur auch mit der Umsetzung des
Aktionsplans begonnen werden soll, muss bereits das vorliegende Gesetzgebungsverfahren genutzt werden, um Anreize für barrierefreie Praxen zu setzen. 

Zwar könnte der Bewertungsausschuss das Kriterium der Barrierefreiheit bereits nach der geplanten Neureglung aufnehmen, da es sich bei den in § 87 Abs. 2n S. 2 SGB V-neu vom Gesetzgeber benannten Kriterien um keine abschließende Aufzählung handelt. Es bestünde aber keine diesbezügliche Pflicht und damit nur eine geringe Wahrscheinlichkeit. Erst wenn im gesetzlichen Auftrag ausdrücklich steht, dass die Kriterien für die Auszahlung beziehungsweise Bemessung der Vorhaltepauschale auch die Barrierefreiheit der Praxis enthalten müssen, bestünde eine entsprechende Verpflichtung der Bewertungsausschusses.

7. Klarstellung zur Nutzung von Mitteln des Strukturfonds (§ 105 Abs. 1a S. 5 SGB V-neu; Ergänzung in § 105 Abs. 1a, S. 3 Nr. 9 SGB V)

Die BAG SELBSTHILFE hält – wie schon in ihrem Forderungspapier zur Schaffung eines Aktionsplans für ein barrierefreies, inklusives und diverses Gesundheitswesen gefordert - es für dringend erforderlich, den Ausbau von barrierefreien Praxen mit Mitteln des Strukturfonds zu fördern; hierzu ist aus ihrer Sicht eine Klarstellung bzw. eine Ergänzung erforderlich:

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt zwar, dass der Gesetzgeber mit der vorgesehenen Regelung das Abrufen der Förderung erleichtern möchte, indem er bestehende Unsicherheiten zur Verwendung der Fördermittel beseitigt. Allerdings besteht in der Praxis gleichermaßen die Unsicherheiten, inwieweit die Mittel des Strukturfonds auch zur Förderung von barrierefreien Arztpraxen eingesetzt werden können.

Auch diesbezüglich ist eine Klarstellung dringend erforderlich; insoweit muss hier eine Ergänzung dahingehend vorgenommen werden, dass unter § 105 Abs. 1a S. 3 Nr. 9 die „Förderung der Barrierefreiheit“ aufgenommen wird.

8. Bonus für die Teilnahme an einem hausärztlichen Versorgungsprogramm (§ 65a SGB V RefE)

Parallel zur Einführung der Bonuszahlung hält die BAG SELBSTHILFE eine Evaluation zur Feststellung, ob tatsächlich mehr Versicherte an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmen, für erforderlich. Gleiches gilt für die Feststellung zur Zufriedenheit und bezüglich etwaiger Steuerungseffekte.

9. Maßnahmen zur Bekämpfung des Fehlverhaltens im Gesundheitswesen (§ 197a Abs. 7 SGB V RefE)

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt Maßnahmen zur Bekämpfung des Fehlverhaltens im Gesundheitswesen.  Die Vorschrift des § 197a Abs.7 SGB V n.F. lässt jedoch ein sehr umfangreiches Verfahren erwarten, so dass die BAG SELBSTHILFE die praktische Umsetzung als zweifelhaft ansieht. Positiv zu beurteilen ist die vorgesehene Einbeziehung der Landesverbände der Krankenkassen.

10. Durchführung jeder 2. Pflegeberatung per Videokonferenz (§ 37 Abs. 3 S.4 SGB XI RefE)

Grundsätzlich begrüßt die BAG SELBSTHILFE die Verlängerung der Evaluationsfrist und die Möglichkeit, jede 2. Pflegeberatung per Videokonferenz durchführen zu können. Sollte diese verlängerte Frist jedoch keine validen Daten liefern, so halten wir eine dauerhafte Entfristung der Regelung für erforderlich, wobei der Wille der Pflegebedürftigen immer zu beachten sein muss. Sofern diese eine Präsenzberatung wünschen, ist diese immer durchzuführen. Zusätzlich könnte auch noch die Möglichkeit einer telefonischen Pflegeberatung wieder eingeführt werden, die gerade für viele ältere Betroffene oft einfacher umzusetzen ist; auch hier muss natürlich sichergestellt werden, dass diese nur auf Wunsch des Pflegebedürftigen telefonisch durchgeführt wird.

11. Weiterversicherung von Rentnern (§ 10 SGB V RefE)

Die beabsichtigte restriktive Änderung im Hinblick auf die Weiterversicherung von Rentnern in der GKV (§ 10 SGB V) lehnt die BAG SELBSTHILFE ab. Die Möglichkeit der Weiterversicherung in der GKV nach vorherigem Bezug einer Teilrente ist entgegen der Gesetzesbegründung nicht als Missbrauch anzusehen. Die vorgesehene Änderung im Hinblick auf Waisenrente und ehrenamtliches/freiwilliges Engagement ist zu stärken, dies insbesondere auch im Bereich der Unterstützung von erkrankten/pflegebedürftigen Menschen, die auf ehrenamtliche Unterstützung angewiesen sind. 

12. Einbeziehung der Länder in die Zulassungsausschüsse (§ 96 SGB VRefE)

Grundsätzlich begrüßt die BAG SELBSTHILFE die Einbeziehung der Länder. Erforderlich ist jedoch ebenfalls eine Klarstellung und Stärkung der Patientenvertretung nach § 140f SGB V auf Landesebene, die durch Einbeziehung des § 140 f SGB V bereits im Gesetzestext deutlich gemacht werden sollte.

Eine Klarstellung dahingehend, was vom Mitberatungsrecht umfasst ist, halten wir auch an dieser Stelle für sinnvoll. Für die Aufgaben nach § 140f Abs. 3 Ziffer 1 bis 4 SGB V sollte per Richtlinie festgelegt werden, wie die Mitberatung zu erfolgen hat. In der Praxis zeigen sich hier willkürliche Auslegungen. Eine Einbeziehung der Länder erfordert die Schaffung und Umsetzung voller Transparenz und Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben hierzu.  Daher halten wir eine Klarstellung im Hinblick auf § 140f SGB V für erforderlich.

13. Separate Bedarfsplanung für Kinder und Jugendlichen im Bereichder Psychotherapie (§ 101 Abs. 4a SGV RefE), weitere Regelungen für Heilmittelerbringer

Die psychotherapeutische Begleitung bei Kindern und Jugendlichen hält die BAG SELBSTHILFE für sehr sinnvoll; wir begrüßen daher eine separate Bedarfsplanung, sofern diese dann auch zu mehr Niederlassungsmöglichkeiten führt und dadurch deutlich mehr und schnellere Zugangsmöglichkeiten zu entsprechenden Angeboten geschaffen werden.

Gleiches gilt für alle Therapeuten/ Heilmittelerbringer. Auch hier besteht ein massiver Mangel, der bekannt ist, jedoch in der Öffentlichkeit weniger thematisiert wird. Für die therapeutischen Berufe gibt es keine bundeseinheitlichen Regelungen oder Rahmenregelungen. Hier könnte Abhilfe geschaffen werden durch Aufnahme dieser Thematik in den Referentenentwurf. Die Ausbildungsverordnung in der Physiotherapie beispielsweise ist immer noch aus dem Jahr 1994. Wie unterschiedlich die Ausbildungslandschaft ist, sieht man auf der Seite von "physio-deutschland", einem der Berufsverbände (https://www.physio-deutschland.de/fachkreise/beruf-und-bildung/ausbildung.html).

 

Düsseldorf/ Berlin, 30. April 2024

 


[1] https://www.bag-selbsthilfe.de/aktuelles/nachrichten/detail/news/forderungspapier-der-bag-selbsthilfe-zur-staerkung-der-patientenbeteiligung-und-vertretung-im-gemeinsamen-bundesausschuss-g-ba-und-weiteren-beteiligungsgremien-nach-140f-sgb-v-zur-beruecksichtigung-im-gesundheitsversorgungsstaerkungsgesetz

[2] KBV, Diagnoseliste langfristiger Heilmittelbedarf/ besondere Verordnungsbedarfe https://www.kbv.de/media/sp/Heilmittel_Diagnoseliste_Webversion.pdf  Dieses Dokument in neuem Tab öffnen und vorlesen

[3] Universität Bielefeld, Abschlussbericht zur „Evaluation von Spezialambulanzen und gynäkologischen Sprechstundenangeboten zur gynäkologischen und geburtshilflichen Versorgung von Frauen mit Behinderung“, Juni 2019, S. 48 f.

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